5. Viele Römer verzichten darauf, Römer zu bleiben und flüchten zu den Barbaren
Aber, da es so viele gibt, welche die Guten berauben, so gibt es vielleicht auch einige, welche bei der Beraubung zu Hilfe eilen, damit sie, wie geschrieben steht, „den Dürftigen und Armen aus der Hand des Sünders befreien". 1Es gibt keinen, der Gutes tut, fast keinen einzigen. 2Deswegen heißt es, „fast keinen einzigen", weil die Guten so selten sind, daß es „fast kein einziger" zu sein scheint. Denn wer läßt Gequälten und Leidenden Hilfe angedeihen, da nicht einmal die Priester 3des Herrn der Gewalttätigkeit ruchloser Menschen Widerstand leisten? Denn die meisten von ihnen schweigen oder benehmen sich so, als schwiegen sie, auch wenn sie reden; und zwar tun das viele nicht aus Schwachheit, sondern mit Absicht, wie sie glauben, und nach vernünftiger Überlegung. Die offenkundige Wahrheit wollen sie nicht vorbringen, weil die Ohren der ruchlosen Menschen sie nicht ertragen können; und sie fliehen sie nicht nur, sondern hassen und verfluchen sie auch; und haben sie sie gehört, so fürchten und scheuen sie dieselbe nicht nur nicht, sondern verachten sie in ihrem hartnäckigen Stolz mit noch größerer Feindschaft. Und deshalb schweigen auch die, die reden könnten, S. 159 ja bisweilen verschonen sie sogar die Bösen; die ganze kraftvolle Wahrheit wollen sie nicht vorlegen, um sie nicht durch eine allzu heftige Vorstellung der Wahrheit noch schlechter zu machen. Unterdessen werden Arme ausgeplündert, seufzen Witwen, werden Waisen mit Füßen getreten; ja, es ist soweit gekommen, daß viele von ihnen, und zwar nicht solche aus niedrigem Geschlecht und mit guter Bildung, zu den Feinden fliehen, um nicht unter dem Druck der staatlichen Verfolgung zu sterben. Sie suchen bei den Barbaren die Menschlichkeit der Römer, weil sie bei den Römern die barbarische Unmenschlichkeit nicht ertragen können. Und obwohl sie von denen, zu denen sie flüchten, in Gebräuchen und Sprache abweichen, ja sogar schon, wenn ich so sagen darf, durch den üblen Geruch der Leiber und der Barbarenkleider 4sich abgestoßen fühlen, wollen sie doch lieber bei den Barbaren unter der ungewohnten Lebenshaltung leiden als bei den Römern unter ungerechter Wut. Deshalb wandern sie scharenweise entweder zu den Goten oder zu den Bagauden 5 S. 160 oder zu anderen Barbaren, die ja allenthalben herrschen; und es reut sie nicht, hinübergewandert zu sein. Denn lieber leben sie unter dem Schein der Gefangenschaft frei als unter dem Schein der Freiheit als Gefangene. Deswegen wird der Name des römischen Bürgers, der einst nicht nur hoch geschätzt, sondern auch um viel Geld gekauft wurde, jetzt aus freien Stücken verschmäht und gemieden; und er gilt nicht bloß als geringwertig, sondern sogar fast als verabscheuungswert. Und was kann ein noch schlagenderer Beweis für die römische Ungerechtigkeit sein, als daß sehr viele ehrenwerte Adelige, denen das Römersein höchstes Ansehen und Ehre hätte bringen sollen, durch die Grausamkeit und Ungerechtigkeit der Römer soweit gekommen sind, daß sie keine Römer mehr sein wollen? Und daher kommt es, daß auch die, die nicht zu den Barbaren fliehen, doch gezwungen werden, Barbaren zu sein, wie zum Beispiel ein großer Teil der Spanier und ein nicht geringerer der Gallier, und endlich alle, welche wegen der auf dem ganzen Erdkreis verbreiteten römischen Ungerechtigkeit keine Römer mehr sein können.
Ps. 81, 4. ↩
Ebd. 13, 3. „Paene" hat weder die Vulgata noch der Urtext noch ein anderes Zeugnis. Über dieses ungenaue Bibelzitat Salvians vgl. Ullrich a.a.O. S. 7 ff. In der gleichen Form steht der Vers ad Eccl. 13, 57. ↩
Unter den sacerdotes sind hier Bischöfe zu verstehen, vor allem solche edler Abkunft, die vor ihrem Eintritt in den Priesterstand oft selbst die höchsten Staatsämter bekleidet hatten (Härnmerle III, S. 6, Anm. 2 und 3). Viele Bischöfe wollten die Gunst der hohen Reichsbeamten nicht verlieren, die ihnen zu ihrer Stellung verholfen hatten, andere gingen darauf aus, sich einen der reichen gallischen Bischofsstühle zu erwerben (Härnmerle III, S. 11), Freilich kam es anderseits auch oft vor, daß Bischöfe unerschrocken für die Bedrängten eintraten, so Salvians Freund, der Bischof Hilarius von Arelate (429-449). (Härnmerle a.a.O. III, S. 12.) ↩
Die Goten trugen Pelze, Rhenones genannt, ferner safrangelbe und mennigrote Gewänder (Härnmerle III, S. 15). ↩
Bagauden, etwa = die „Streitbaren", Ein keltisches Wort; nach Zeuß, Gramm, celtica 790, durch die Endung -auda (vgl. alauda) abgeleitet von einem Stamm, zu dem altirisch baga = Streit, Kampf gehört. Diesen Namen legten sich zuerst die gallorömischen oder gallogermanischen Bauern bei, als sie sich 283 oder 284 gegen den Kaiser Carinus erhoben. Diokletian ließ den Aufstand, der sehr gewaltig aufgeflammt war, unterdrücken; das Räuberunwesen blieb jedoch; und so oft die Macht der römischen Regierung im Schwinden begriffen war, flammten eineinhalb Jahrhunderte lang die Bagaudenkämpfe wieder auf. In der Mitte des 5. Jahrh. waren die B. so stark, daß sie ein eigenes Gemeinwesen bildeten, um dem Steuerdruck der römischen Statthalter zu entgehen. (Vgl. Pauly-Wissowa, Realenz. d. kl. Alt., unter Bagauden.) ↩
