6.
A. Du scheinst vergeßlich zu sein und, gerade als ob früher nichts gesagt worden wäre, zum Ausgangspunkte unserer Erörterung zurückzukehren. Denn dies war das Ergebnis unserer langen Auseinandersetzung, daß der Herr durch seine Gnade, kraft welcher er uns den freien Willen verliehen hat, uns auch bei den einzelnen Handlungen unterstützt und beisteht.
C. Was krönt er in uns, und warum lobt er uns, wenn er doch selbst der Handelnde war?
A. Unseren Willen krönt er, der alles zur Verfügung gestellt hat, was er konnte, die Anstrengung, die auf die Ausführung verwandt wurde, und die Demut, welche ständig nach der Hilfe Gottes Ausschau hielt.
C. Setzen wir also den Fall, daß wir Gottes Gebote S. 471 nicht beobachtet haben! Entweder wollte er uns unterstützen oder er wollte es nicht. Wofern er uns unterstützen wollte und es auch wirklich tat, dann sind nicht wir, sondern dann ist er besiegt worden, wenn wir trotzdem nicht zur Ausführung brachten, was wir vorhatten. Wollte er uns aber nicht beistehen, dann liegt die Schuld nicht bei dem, der handeln wollte, sondern bei dem, der helfen konnte, aber nicht zu helfen gewillt war.
A. Du merkst wohl gar nicht, in welch tiefen Abgrund der Gotteslästerung dein Dilemma dich hineingestürzt hat? Unter jeder Voraussetzung, sei es daß er durch Ohnmacht gelähmt, sei es daß er von Gehässigkeit erfüllt wäre, würde es Gott nicht so sehr zum Lobe anzurechnen sein, daß er der Urheber und Förderer alles Guten ist, vielmehr müßte ihm dann zum Vorwurf gemacht werden, daß er das Böse nicht verhindert hat. Er verdiente also, von uns geschmäht zu werden, weil er die Existenz des Teufels zuläßt, weil er gelitten hat, weil er erlaubt, daß bis jetzt täglich etwas Böses in der Welt geschieht? Das ist die Fragestellung eines Marcion und der gesamten Meute der Häretiker, welche das Alte Testament herabsetzen und gewohnt sind, Schlüsse aufzubauen nach Art des folgenden: Entweder wußte Gott, daß der Mensch, den er ins Paradies gesetzt hat, sein Gebot mißachten werde, oder er wußte es nicht. Wenn er es gewußt hat, dann trifft den keine Schuld, der sich vor dem göttlichen Vorherwissen nicht retten konnte, sondern jenen, der ihn so geschaffen hat, daß er dem göttlichen Wissen zum Opfer fallen mußte. Hat er es aber nicht gewußt, dann hebst du sein Vorherwissen, damit aber auch seine Gottheit auf. Nach dieser Methode wird auch der eine Schuld auf sich laden, der den Saul erwählt hat, da dieser später ein gar gottloser König wurde. Den Erlöser wird man dann auch der Unwissenheit oder der Ungerechtigkeit zeihen können, weil er im Evangelium gesprochen hat: „Habe ich euch nicht zu zwölf auserwählt, und einer von euch ist ein Teufel?“1 Frage ihn, warum er den Verräter Judas S. 472 auserwählt hat; warum er ihm die Kasse anvertraut hat, obgleich er genau wußte, daß er ein Dieb war! Willst du den Grund hören? Gott beurteilt die augenblicklichen Verhältnisse, nicht die zukünftigen. Er verurteilt niemanden auf Grund seines Vorherwissens, wenn er auch weiß, daß einer ihm in Zukunft mißfallen wird. Vielmehr geht seine Güte und unsagbare Milde soweit, daß er einen solchen auserwählt, der vorläufig in seinen Augen noch gut ist, von dem er aber weiß, daß er schlecht werden wird, um ihm Gelegenheit zur Bekehrung und zur Buße zu schenken gemäß dem Ausspruche des Apostels: „Weißt du nicht, daß die Güte Gottes dich zur Buße führt? Aber entsprechend deiner Herzenshärte und unbußfertigen Gesinnung häufst du dir Zorn auf für den Tag des Zornes und der Offenbarung des gerechten Gerichtes Gottes, der einem jeden vergelten wird nach seinen Werken“2. Nicht deshalb hat Adam gesündigt, weil der Herr seine Sünde vorausgesehen hatte, sondern Gott hatte kraft seiner göttlichen Natur vorhergesehen, was jener aus freier Willensentscheidung heraus tun würde. Du kannst schließlich auch Gott den Vorwurf der Lüge machen, weil er durch Jonas sagen ließ: „Noch drei Tage, und Ninive wird untergehen“3. Aber er wird dir durch Jeremias zur Antwort geben: „Wenn ich überhaupt gegen ein Volk oder ein Reich mein Wort richte, um es auszurotten, zu vernichten und zu vertilgen, und wenn dann das Volk Buße tut über seine Bosheit, derentwegen ich mich gegen es gewandt habe, dann wird auch mich das Böse reuen, das ich vorhatte, ihm anzutun. Wenn ich aber von einem Volke oder einem Reiche spreche, daß ich vorhabe, es aufzubauen und zu fördern, dann wird mich das Gute reuen, das ich ihm zu erweisen gedachte, sobald es schlecht vor mir handelt und nicht auf meine Stimme hört“4. Auch Jonas war einst darüber ungehalten, daß die Drohung, die er auf Befehl Gottes verkündigte, sich nicht verwirklichte. Aber es trifft ihn dafür der S. 473 Vorwurf unangebrachter Trauer, weil er lieber gesehen hätte, sein Wort wäre in Erfüllung gegangen, wenn auch ein großes Volk dabei seinen Untergang gefunden hätte, als daß eine nicht in Erfüllung gegangene Drohung so vielen Rettung bringen müßte. Es wird ihm ein Beispiel vorgehalten: „Du grämst dich wegen einer Epheu- bezw. einer Kürbisstaude5, mit der du doch keine Mühe gehabt hast und die du auch nicht wachsen ließest, die in einer Nacht entstand und in einer Nacht verging. Ich aber sollte nicht Ninive schonen, eine große Stadt, in welcher mehr als 120 000 Menschen wohnen, die noch nicht einmal den Unterschied zwischen links und rechts kennen?“6 Wenn sich eine so große Menge von Menschen im Lebensalter der kindlichen Einfalt vorfand, die du sicherlich nicht zu Sündern stempeln können wirst, was werden wir dann sagen von den Frauen und Männern der verschiedenen Altersstufen, die nach einem Ausspruch Philos und des weisesten der Philosophen7 von der Kindheit an bis zum abgelebten Greisenalter in siebenjährigem Turnus sich abrollen, wobei die einzelnen Stufen in der Weise sich ablösen, daß wir vom Übergang aus der einen in die andere nicht das Geringste wahrnehmen können.
Joh. 6, 71. ↩
Röm. 2, 4―6. ↩
Jon. 3, 4. Statt drei Tage heißt es hier „vierzig Tage“. ↩
Jer. 18, 7—10. ↩
Hinweis auf den berühmten Streit wegen der von Hieronymus geschaffenen Lesart hedera im Gegensatz zur Itala, die cucurbita las. Jon. 4, 6. ↩
Jon. 4, 10 f. ↩
Philo, De opificio mundi c. 103 f. (L. Cohn. Philonis Alexandrini opera quae supersunt I, 35 ff. Berlin 1896). Philo zitiert dortselbst auch den von Hieronymus erwähnten „Ausspruch des weisesten der Philosophen“, nämlich Solons. ↩
