12.
C. Es sei denn zugegeben, daß niemand in seinen Kinder-, Jünglings- und Mannesjahren jede Sünde meiden kann. Kannst du aber leugnen, daß sehr viele gerechte und heilige Männer nach den Tagen der Sünde sich mit aller Energie den Tugenden zugewandt haben und durch sie völlig frei von Sünden wurden?
A. Das ist der Standpunkt, den ich von Anfang an vertreten habe. Es liegt in unserer Gewalt, zu sündigen oder nicht zu sündigen, die Hand nach dem Guten oder Bösen auszustrecken, so daß die freie S. 482 Willensentscheidung gewahrt bleibt, aber nur unter Einschränkung, für eine gewisse Zeit und unter Berücksichtigung der menschlichen Gebrechlichkeit. Die ständige Sündlosigkeit aber ist allein Gott vorbehalten und ihm, der Fleisch geworden ist, ohne Bekanntschaft zu machen mit den fleischlichen Begierden und mit der Sünde. Du wirst mich aber nicht zu dem Zugeständnis zwingen, daß ich etwas in einem fort kann, weil ich es auf kurze Zeit vermag. Ich kann fasten, wachen, umherwandeln, lesen, Psalmen singen, sitzen, schlafen. Kann ich es aber beständig?
C. Warum werden wir denn in den Heiligen Schriften zur vollkommenen Gerechtigkeit aufgefordert, z. B. in folgenden Stellen: „Selig sind, die ein reines Herz haben, denn sie werden Gott anschauen1; selig, die in Unschuld ihren Weg gehen, die wandeln nach dem Gesetze des Herrn“2; ferner in den Worten, die der Herr an Abraham richtete: „Ich bin dein Gott; suche mir zu gefallen und sei ohne Makel! Gib keinen Anlaß zur Klage! Dann werde ich meinen Bund zwischen mir und dir schließen und dich gar sehr vermehren“3. Denn wenn etwas nicht möglich ist, wofür die Schrift eintritt, dann ist es ganz zwecklos, wenn sie vorschreibt, es zu tun.
A. Du führst zwar verschiedene Schriftzeugnisse an, bewegst dich aber ständig innerhalb der gleichen Frage nach Art theatralischen Blendwerkes, wo man einen und denselben Menschen die Rollen wechseln und bald als Mars, bald als Venus auftreten läßt. Während er zuerst wild und grimmig einherschritt, ergeht er sich nachher in weibischer Weichlichkeit. Dein scheinbar neuer Einwand: „Selig sind, die ein reines Herz haben“, „Selig, die in Unschuld ihren Weg gehen“, „Sei ohne Makel“ und andere derartige Stellen sind bereits als irrig abgetan durch den Ausspruch des Apostels: „Unser Erkennen und unser Weissagen ist nur Stückwerk. Jetzt schauen wir rätselhaft wie durch einen Spiegel. Wenn S. 483 aber die Zeit der Vollendung naht, dann wird das, was nur Stückwerk war, vernichtet werden“4. Das reine Herz, das später Gott schauen soll, die Seligkeit des makellosen Wandels und das unbefleckte Leben, wie es von Abraham verlangt wurde, besitzen wir nur schattenhaft und im Abbilde. Mag einer noch so hoch stehen unter den Patriarchen, Propheten, Aposteln, an alle wendet sich das Wort des Herrn und Heilandes: „Wenn ihr, obwohl ihr schlecht seid, euren Kindern das Gute zu geben wißt, um wieviel mehr wird euer Vater, der im Himmel ist, denen, die ihn darum bitten, das Gute geben?“5 Übrigens fiel auch Abraham, zu dem gesagt worden war: „Gib keinen Anlaß zur Klage, sei ohne Makel“, auf sein Angesicht zur Erde nieder im Bewußtsein seiner Gebrechlichkeit. Kaum hatte der Herr zu ihm gesprochen: „Deine Gattin Sarai wird in Zukunft nicht mehr Sarai genannt werden, sondern Sara soll ihr Name sein. Ich will dir aus ihr einen Sohn schenken und ihn segnen. Er wird zu Völkern werden, und Könige über Völker werden aus ihm hervorgehen“6, da wird sofort beigefügt: „Abraham fiel auf sein Angesicht, lachte und dachte bei sich: Kann wohl einem Hundertjährigen ein Sohn geboren werden, hat Sara als Neunzigjährige noch Aussicht, einem Kinde das Leben zu geben? Und Abraham sprach zum Herrn: Möchte doch Ismael leben vor Dir! Gott antwortete ihm: Es sei so! Siehe, deine Gattin Sara wird dir einen Sohn gebären, und du sollst ihm den Namen Isaak geben“7 u. s. w. Er hatte den Ausspruch Gottes vernommen: „Ich bin dein Gott, suche mir zu gefallen und sei ohne Makel!“8 Warum hat er aber dem göttlichen Versprechen keinen Glauben geschenkt, sondern, da er nicht wagte es offen zu tun, still für sich gelacht in der Meinung, Gott merke es nicht? Dann legte er sich die Gründe für seinen Unglauben zurecht und dachte bei sich: „Wie ist es möglich, daß ein Hundertjähriger von einer neunzigjährigen Gattin noch S. 484 einen Sohn erhält?“ „Ismael“, so spricht er, „möge leben vor Dir, den Du mir nun einmal geschenkt hast! Ich verlange nicht nach Dingen, die schwer zu erfüllen sind; ich bin zufrieden mit dem Wohlwollen, das ich erfahren habe.“ In geheimnisvoller Antwort tadelt ihn Gott und spricht: „Es geschehe so!“ Der Sinn ist: „Es wird das geschehen, wovon du annimmst, es werde nicht eintreffen. Sara, deine Gattin, wird dir einen Sohn gebären, und ehe sie empfängt, will ich dem Knaben, bevor er zur Welt kommt, einen Namen geben. Wegen deines Irrtums, der dich im stillen zum Lachen reizte, wird dein Sohn den Namen Isaak, d. h. Gelächter, erhalten“. Wenn du aber meinst, daß diejenigen, die auf dieser Welt reinen Herzens sind, Gott schauen, warum bittet denn Moses, der zuerst gesprochen hatte: „Ich habe den Herrn von Angesicht zu Angesicht gesehen, und meine Seele wurde gerettet“9, nachher, daß er den Herrn, so wie er ist, sehe? Denn er erhält vom Herrn, welchen er nach seiner Behauptung gesehen hatte, den Bescheid: „Du kannst mein Angesicht nicht sehen; denn kein Mensch wird mein Angesicht sehen und leben“10. Deshalb nennt auch der Apostel Gott allein unsichtbar, der in einem unnahbaren Lichte wohnt, den kein Mensch je gesehen hat oder je schauen kann11. Der Evangelist Johannes bezeugt ferner mit gottbegnadeter Stimme: „Niemand hat jemals Gott gesehen. Der eingeborene Sohn selbst, der im Schoße des Vaters ist, hat es uns kundgetan“12. Er, der sieht, tut nicht kund, wie groß der ist, den er gesehen hat; er tut nicht alles kund, was er weiß, sondern nur soviel, als die menschliche Natur zu fassen vermag.
Matth. 5, 8. ↩
Ps. 118, 1 [Hebr. Ps. 119, 1]. ↩
Gen. 17, 1 f. ↩
1 Kor. 13, 9. 12. 10. ↩
Matth. 7, 11. ↩
Gen. 17, 15 f. ↩
Gen. 17, 17―19. ↩
Gen. 17, 1. ↩
Gen. 32, 30 [Hebr. Gen. 32, 31]. Es liegt eine Verwechslung vor. Jakob, nicht Moses hat den Ausspruch getan. ↩
Exod. 33, 20 [in diesem Fall ist es Moses, nicht Jakob, der angesprochen wird]. ↩
1 Tim. 6, 16. ↩
Joh. 1, 18. ↩
