14.
Diesem deinem aufgeblähten, stolzen Wesen entspringt auch jene Kühnheit des Gebetes, die du in einem Schreiben an eine Witwe offenbarst, welcher du darlegst, wie die Heiligen beten sollen. „Jener“, so lauten deine Worte, „hat das Recht, seine Hände zu Gott emporzuheben, jener darf mit gutem Gewissen sein Gebet verrichten, der sprechen kann: Du weißt, o Herr, wie heilig, wie unschuldig, wie rein von jedem Betrug, von jedem Unrecht und jedem Raube die Hände sind, die ich zu Dir emporhebe. Du weißt, wie gerecht und makellos, wie abhold jeder Lüge die Lippen sind, von denen sich meine Gebete um Dein Erbarmen zu Dir ergießen“1. S. 487 Ist dies das Gebet eines Christen oder eines hochfahrenden Pharisäers, wie er im Evangelium zu Worte kommt: „O mein Gott, ich danke Dir, weil ich nicht bin wie die übrigen Menschen, wie die Räuber, die Ungerechten, die Ehebrecher und wie dieser Zöllner da. Ich faste zweimal in der Woche und gebe den Zehnten von allem, was ich besitze“2? Er dankt zwar noch Gott, weil er durch dessen Barmherzigkeit nicht ist wie die übrigen Menschen, weil er die Sünden verabscheut, ohne deshalb schon Anspruch auf die Gerechtigkeit zu erheben. Du aber sprichst: „Du weißt, o Herr, wie heilig, wie unschuldig, wie rein von jedem Betruge, Unrecht oder Raub die Hände sind, die ich zu Dir emporhebe“. Jener behauptet, zweimal wöchentlich zu fasten, um das nach Lastern lüsterne Fleisch zu kreuzigen, und von seiner gesamten Habe spendet er den Zehnten. „Denn mit seinem Reichtum kauft mancher sein Leben los“3. Du aber rühmst dich mit Satan, der spricht: „Über die Sterne will ich mich erheben, im Himmel will ich meinen Thron aufschlagen und ich werde dem Allerhöchsten ähnlich sein“4. David sagt: „Meine Lenden sind voll Schmach5, meine Wunden triefen von Fäulnis wegen meiner Torheit6; gehe nicht ins Gericht mit Deinem Knechte; denn kein Lebender wird in Deinen Augen gerechtfertigt werden“7. Du natürlich rühmst dich, heilig, unschuldig und makellos zu sein; du erhebst deine Hände rein zu Gott. Du begnügst dich nicht damit, rühmend auf alle deine Werke hinzuweisen, sondern du willst auch rein sein von jeder Zungen- und Wortsünde. Deshalb erwähnst du ja ausdrücklich, wie rein, wie makellos, wie abhold jeder Lüge deine Lippen sind. David singt: „Alle Menschen sind Lügner“8. S. 488 Und seine Worte finden die Bestätigung des Apostels, der schreibt: „Wie Gott wahrhaft ist, so ist jeder Mensch ein Lügner“9. Du hingegen nennst Lippen dein eigen, die makellos, gerecht und jeder Lüge bar sind. Isaias klagt: „Wehe mir Elenden, der ich von Gewissensbissen gequält werde, weil ich ein Mann von unreinen Lippen bin und unter einem Volke mit unreinen Lippen wohne!“10 Darauf bringt ein Seraph mit einer Zange eine glühende Kohle herbei, um die Lippen des Propheten zu reinigen11, der aber nicht anmaßend war, wie du sagen wirst, sondern der nur seine Sünden bekannte gemäß dem Psalmenwort: „Was wird dir gegeben oder was wird vergolten für deine boshafte Zunge? Geschärfte Pfeile des Gewaltigen samt brennenden Kohlen“12 Und nach soviel Überhebung, nach einem derartig hoffärtigen Gebete, in dem das Vertrauen auf deine Heiligkeit so stark zum Ausdruck kam, suchst du, selbst ein Tor, anderen Toren etwas weiszumachen, indem du am Ende sprichst: „Von ihnen aus sende ich meine Gebete um Dein Erbarmen zu Dir“. Bist du heilig, unschuldig, von jeder Beschmutzung rein, hast du weder im Worte noch durch Werke gesündigt — Jakobus sagt: „Wer auch im Worte nicht sündigt, der ist ein vollkommener Mann“13, und: „Niemand kann seine Zunge im Zaume halten“14 —, warum bittest du denn um Barmherzigkeit? Du trauerst wohl und betest deshalb, weil du heilig, rein, unschuldig, von makellosen Lippen, jeder Lüge abhold bist und Gott in seiner Macht nahe kommst? Christus hat am Kreuze gebetet: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen? Fern von meiner Hilfe verhallen meine schwachen Worte15; Vater, in Deine Hände empfehle ich meinen Geist16; Vater, verzeih ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun“17, nachdem er für uns danksagend gesprochen hatte: „Ich preise Dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde“18.
Den Namen der Witwe, Livania, hat uns Marius Mercator (commonitorium c. 4) überliefert. Grützmacher III. 271 f. identifiziert sie mit Juliana, der Großmutter der Nonne Demetrias, an welche Hieronymus einen Brief (epist. 130) gerichtet hat. Augustinus (De gestis Pelagii n. 16. 19) und Marius Mercator (a. a. O.) zitieren noch andere Bruchstücke aus diesem Briefe. Er wurde Pelagius auf der Synode zu Diospolis vorgehalten, von diesem jedoch verleugnet. Harnack (Dogmengeschichte III4, 174 f.) neigt dazu, diesen Brief für eine Unterschiebung bezw. für interpoliert zu halten. Hieronymus tritt der Ableugnung des Pelagius mit inneren Gründen entgegen (Adv. Pelagianos III, 16), Augustinus freilich rechnet mit der Möglichkeit einer Fälschung (De gest. Pel. n. 19). G. Morin (Pelage ou Fastidius in Revue d’histoire ecclésiastique V [1904], 263) weist diesen Brief „Ad viduam“ der Schrift „Da vita christiana“ des britischen Bischofs Fastidius, eines Pelagianers, zu. Er rechnet allerdings mit einer Benutzung durch Pelagius, da der Brief nach Augustinus’ Angabe bereits seit 412 unter dem Namen dieses Irrlehrers zirkulierte. Loofs hält die Frage noch nicht für völlig geklärt, wenn er auch Morins Ergebnis zuneigt (Realenzykl. f. prot. Theol. u. Kirche XXIV, 312). ↩
Luk, 18, 11 f. ↩
Spr. 13, 8. ↩
Is. 14, 13 f. ↩
Ps. 37, 8 [Hebr. Ps. 38, 8]. ↩
Ps. 37, 6 [Hebr. Ps. 38, 6]. ↩
Ps. 142, 2 [Hebr. Ps. 143, 2]. ↩
Ps. 115, 2 [Hebr. Ps. 116, 11]. ↩
Röm. 3, 4. ↩
Is. 6, 5. ↩
Is. 6, 6. ↩
Ps. 119, 3 f. [Hebr. Ps. 120, 3 f.]. ↩
Jak. 3, 2. ↩
Jak. 3, 8. ↩
Ps. 21, 2 [Hebr. Ps. 22, 2]. ↩
Luk. 23, 46. ↩
Luk. 23, 34. ↩
Matth. 11, 25. ↩
