29. Kap. Über die Kraft and Wirksamkeit des Gebetes. Schluß.
Denn was wird Gott einem Gebete, welches aus Glauben und Wahrheit hervorgeht, abschlagen? - da S. 272er es ja fordert. Wir lesen, hören und glauben die großen Beweise seines Eingreifens. Im Altertum befreite das Gebet vom Feuer, von den wilden Tieren und der Hungersnot, und doch war es noch nicht von Christus in eine Form gebracht worden. Wieviel mehr noch ist das christliche Gebet zu wirken imstande! Es stellt zwar nicht den Engel des Morgentaues in die Mitte der Feuerflammen, es stopft nicht den Rachen der Löwen, es bringt nicht den Hungernden das Mittagbrot der Feldarbeiter hinüber, auch wird das Gefühl des Leidens nicht durch eine gesendete Gnade abgewendet1, wohl aber rüstet es leidende, fühlende und Schmerz empfindende Wesen mit der Kraft zu dulden aus. Es vermehrt die Gnade durch Verleihung der Tugend, so daß der Glaube sich dessen bewußt wird, was er von Gott erhält, und einsieht, was er für den Namen Gottes leidet.
Das Gebet rief ehedem auch Plagen herab, jagte die Heere der Feinde in die Flucht und verhinderte nützlichen Regen. Jetzt wendet das Gebet der Gerechtigkeit den Zorn Gottes ab, wacht gegen die Feinde und bittet für die Verfolger. Ist es da zu verwundern, wenn es die Gewässer des Himmels zu erbitten versteht, da es seine Feuer zu erlangen imstande war? Einzig das Gebet ist es, wodurch Gott besiegt wird. Aber Christus wollte, daß nichts Böses durch dasselbe bewirkt werde. Er hat ihm jede Macht zum Guten verliehen. Daher vermag es nichts, als nur die Seelen der Verstorbenen vom Wege des Todes zurückzurufen, die Schwachen wieder herzustellen, die Kranken zu heilen, die Dämonischen zu befreien, die Riegel des Kerkers zu öffnen, die Bande der Unschuldigen zu lösen. Es wäscht die Fehltritte ab, vertreibt die Versuchungen, löscht die Verfolgungen aus, tröstet die Kleinmütigen, erfreut die Hochherzigen, geleitet die Wanderer, beschwichtigt die Wogen, setzt die Räuber in Verwirrung, verschafft den Armen Nahrung, leitet die Reichen, richtet die Gefallenen auf, hält die Strauchelnden und verleiht den Stehenden S. 273Festigkeit. Das Gebet ist die Mauer des Glaubens und unsere Schutz- und Angriffswaffe gegen den uns auf allen Seiten auflauernden Feind. Wandeln wir mithin niemals ohne Waffen einher. Am Tage wollen wir des Postenstehens nicht vergessen, bei Nacht nicht des Wachens! Mit den Waffen des Gebetes angetan, wollen wir das Feldzeichen unseres Heerführers bewahren und betend die Posaune des Engels erwarten!
Es beten ja auch die Engel alle, es betet jegliche Kreatur, es betet das Vieh und die wilden Tiere. Auch sie beugen ihre Knie, und wenn sie aus ihren Ställen oder Höhlen herauskommen, so blicken sie nicht untätigen Mundes gen Himmel empor, sondern lassen den Hauch sprühend ausgehen in ihrer Weise. Die Vögel nehmen, wenn sie sich vom Neste erheben, die Richtung gen Himmel, breiten anstatt der Hände die Flügel in Kreuzform aus und lassen Laute hören, die als Gebet gelten können. Was soll ich also noch mehr über die Pflicht des Gebetes sagen? Dies: Auch der Herr selbst hat gebetet, dem Ehre und Macht sei in die Ewigkeit der Ewigkeiten!
Wie im Alten Bunde geschah. Vgl. Dan. 8,25 ff.; 6, 16 ff. bei Habakuk, Job, den drei Knaben im Feuerofen u.s.w. ↩
