15. Ursprung des Bösen.
Hier könnte man vielleicht fragen: Woher sind denn die Sünden an den Menschen gekommen, und welche Verkehrtheit hat die Unwandelbarkeit der göttlichen Anordnung zum Schlechteren gezerrt, so daß der Mensch, der doch zur Gerechtigkeit geboren ist, die Werke der Ungerechtigkeit tut? Ich habe bereits oben auseinandergesetzt, daß Gott dem Menschen Gutes und Böses vor Augen gestellt hat, das Gute, um es zu lieben, das Böse, das dem Guten widerstrebt, um es zu hassen, und daß er darum das Böse zugelassen, damit auch das S. 105 Gute hervorstrahle; denn das eine kann ohne das andere, wie öfters bemerkt, nicht bestehen1. Ist ja auch die Welt aus zwei widerstrebenden und doch miteinander verbundenen Elementen zusammengesetzt, dem feurigen und dem flüssigen; und es hätte das Licht nicht entstehen können, wenn nicht auch Finsternis gewesen wäre; denn es kann kein Oberes geben ohne Unteres, keinen Aufgang ohne Untergang, wie es auch Warmes ohne Kaltes, Weiches ohne Hartes nicht geben kann. So sind auch wir aus zwei gleichermaßen widerstrebenden Bestandteilen zusammengesetzt, der Seele und dem Leibe. Der eine Bestandteil gehört der Ordnung des Himmels an, denn er ist fein und unfaßbar; der andere gehört dem Gebiet der Erde an, denn er ist faßbar und greifbar. Die Seele ist unvergänglich und ewig, der Leib gebrechlich und sterblich. Der Seele haftet das Gute an, dem Leib das Böse, der Seele Licht, Leben und Gerechtigkeit, dem Leib Finsternis, Tod und Ungerechtigkeit2. Daraus entstand im Menschen die Verschlechterung seiner Natur, so daß man ein Gesetz aufstellen mußte, das die Laster in Schranken halten und die Pflichten der Tugend einschärfen sollte. Da es also im menschlichen Leben Gutes und Böses gibt, wovon ich den Grund dargelegt habe, so muß Gott nach beiden Seiten hin angeregt werden, zur Gnade, wenn er Gerechtes geschehen sieht, und zum Zorne, wenn er ungerechte Werke schaut.
Aber hier tritt uns Epikur entgegen und spricht: „Wenn in Gott die Anreizung der Freude ist, die ihn zur Gnade, und die Anreizung des Hasses, die ihn zum Zorne bewegt, so muß Gott auch Furcht und Lüsternheit und Habsucht und die übrigen Gemütsbewegungen haben, die das Erbteil der menschlichen Schwäche sind.“ Es muß der nicht notwendig Furcht haben, welcher zürnt, und der nicht notwendig sich betrüben, welcher sich freut; sind ja doch auch die Zornmütigen weniger S. 106 furchtsam, und die von Natur aus Fröhlichen weniger für Trauer empfänglich. Doch was bedarf es der Bezugnahme auf die menschlichen Stimmungen, denen unsere Gebrechlichkeit unterworfen ist? Betrachten wir das unwandelbare Sein Gottes — ich rede nicht vom Gesetz des Werdens (natura) in Gott, da Gott niemals geworden (natus) ist —. So ist z. B. zur Furcht Grund und Anlaß im Menschen vorhanden, nicht aber in Gott. Denn der Mensch ist vielen Wechselfällen und Gefahren ausgesetzt und muß daher fürchten, daß irgendeine überlegene Gewalt auftreten kann, die ihn peitscht, beraubt, zerfleischt, zu Boden wirft und ums Leben bringt; Gott aber, bei dem weder Dürftigkeit noch Gewalttat, weder Schmerz noch Tod in Betracht kommt, kann schlechterdings nicht fürchten; denn es gibt nichts, was ihm Gewalt antun könnte. So liegt auch für den Menschen Grund und Ursache der Lust am Tage; denn weil der Mensch gebrechlich und sterblich geschaffen ist, so war es notwendig, daß ein anderes verschiedenes Geschlecht begründet wurde, damit aus der Verbindung beider Geschlechter die Nachkommenschaft erzeugt würde zur immerwährenden Erhaltung des menschlichen Geschlechtes. Diese Lust bleibt für Gott außer Betracht; denn Gebrechlichkeit und Untergang ist ihm fremd; auch gibt es im Himmel nicht Götter und Göttinnen; und der bedarf keiner Nachkommenschaft, der ein unvergängliches Leben hat. Das gleiche gilt von Mißgunst und Eigennutz; diese Gebrechen treffen aus bestimmten und offenkundigen Ursachen beim Menschen zu, aber in keiner Weise bei Gott. Aber für Gnade und Zorn und Erbarmung ist Grund und Anlaß zur Betätigung in Gott, und mit Recht bedient sich ihrer die höchste und einzigartige Macht zur Erhaltung der Welt.
