19. Das Gute und Böse im Menschen.
Der Mensch ist, wie bemerkt, aus zwei Bestandteilen, dem Geiste und dem Leibe, zusammengesetzt; im Geiste haben die Tugenden, im Leibe die Laster ihren Sitz, und beide bekämpfen sich wechselseitig. Die geistigen Güter, die in der Beherrschung der Lüste liegen, widerstreiten dem Leibe, und die leiblichen Güter, die jede Art von Vergnügungen umfassen, widerstreben feindselig dem Geiste. Wenn aber die Kraft des Geistes die Begierlichkeiten beherrscht und unterdrückt, so wird der Geist in Wahrheit Gott ähnlich. Daraus erhellt, daß die Seele, die für göttliche Tugend empfänglich ist, nicht sterblich ist. Aber darin liegt der große Unterschied, daß die Tugend mit Bitterkeit verbunden ist, und die Lockung des Vergnügens süß ist. Darum lassen sich sehr viele überwinden und von der Annehmlichkeit fortreißen. Diese sinken dann zur Erde herab, weil sie sich dem Dienst des Leibes und der irdischen Dinge ergeben haben; und sie können die Gnadengabe des göttlichen Geschenkes nicht erlangen, weil sie sich mit dem Schmutz der Laster befleckt haben. Jene aber, die im Anschluß an Gott und im Gehorsam gegen ihn die Gelüste des Leibes verachten, die Tugend den Vergnügungen vorziehen und Unschuld und Gerechtigkeit bewahren, diese erkennt Gott als seine Ebenbilder an. Nachdem nun Gott das heiligste Gesetz aufgestellt hat, nachdem er verlangt, daß alle Menschen schuldlos und guttätig sein sollen, ist es da noch möglich, daß er nicht S. 116 zürnt, wenn er sieht, wie man sein Gesetz verachtet, die Tugend von sich wirft und nach Vergnügungen hascht? Wenn Gott Verwalter der Welt ist, wie es sein muß, so wird er das nicht geringschätzen, was im ganzen Weltall das Größte ist. Wenn er fürsorgend ist, wie es Gott zukommt, so sorgt er sicherlich für das menschliche Geschlecht, damit unser Leben mit einer Fülle von Gütern ausgestattet und vor Gefahren geschützt ist. Wenn Gott Vater und Herr von allen ist, so erfreut er sich gewiß an den Tugenden der Menschen und wird über die Laster aufgebracht. Folglich liebt er auch die Gerechten und haßt die Gottlosen.
„Des Hasses“, sagt man, „bedarf es nicht; denn ein für allemal hat Gott für die Guten Belohnung und für die Bösen Strafe festgesetzt.“ Wie? wenn einer gerecht und schuldlos lebt und doch Gott nicht ehrt und um Gott sich nicht kümmert, wie Aristides und Cimon und die meisten der Philosophen getan haben, wird es diesem ungestraft hingehen, daß er zwar Gottes Gesetz beobachtet, Gott selbst aber mißachtet hat? Es besteht also Grund genug, dem zu zürnen, der gleichsam im Vertrauen auf seine Unbescholtenheit wider Gott sich auflehnt. Wenn Gott diesem zürnen kann wegen des Stolzes, warum nicht um so mehr dem Sünder, der Gesetz und Gesetzgeber zugleich mißachtet hat? Der Richter kann für die Übertretungen nicht Verzeihung gewähren, weil er von fremdem Willen abhängig ist; Gott aber kann es, weil er zugleich Anordner seines Gesetzes und Richter ist; als er das Gesetz aufstellte, hat er sich jedenfalls nicht aller Macht begeben, sondern sich die Freiheit des Verzeihens gewahrt.
