Vierter Artikel. Der körperliche Schmerz ist nicht das größte Übel.
a) Die Traurigkeit scheint das größte Übel zu sein. Denn: I. „Dem Besten steht gegenüber ein im höchsten Grade Schlechtes“ heißt es 8 Ethic. 10. Eine Ergötzlichkeit aber ist das im höchsten Grade Gute oder das Beste, welche nämlich die Seligkeit zum Gegenstande hat. Also giebt es eine Traurigkeit, welche das größte Übel ist. II. Die Seligkeit ist das höchste Gut des Menschen, denn sie ist sein letzter Endzweck. Sie besteht aber darin, daß der Mensch hat, was er will und nichts Böses will. Also das höchste Gut ist die Anfüllung des Willens selber. Die Trauer aber besteht darin daß gegen den Willen des Menschen etwas geschieht; wie Augustin (14. de civ. Dei 15.) sagt. Also ist die Trauer das größte Übel. III. Augustinus schließt so (Soliloq. 1.): „Aus zwei Teilen sind wir zusammengesetzt, aus Leib und Seele nämlich; von denen der geringere Teil der Körper ist. Das höchste Gut aber ist das Beste im besseren Teile; und das größte Übel das Schlechteste im schlechteren Teile. Nun ist das Beste in der Seele die Weisheit, im Körper das Schlechteste der Schmerz. Also besteht das höchste Gut des Menschen im Wissen; das größte Übel im Schmerz-Empfinden.“ Auf der anderen Seite ist die Schuld ein größeres Übel wie die Strafe. (Vgl. I. Kap. 48, Art. 6.) Aber die Trauer oder der Schmerz ist im Bereiche des Übels der Strafe, wie Genießen der veränderlichen Dinge als letzten Endzweckes bedeutet: das Übel der Schuld. Denn so sagt Augustin (de vera relig. 12.): „Was ist der Schmerz, welcher der Seele zugehört, anders als das Entbehren der veränderlichen Güter, die man wie als letzten Endzweck genoß oder genießen zu können gehofft hatte? Und das ist im Ganzen Alles, was man Übel nennt d. i. Sünde und Strafe der Sünde.“ Also ist der Schmerz nicht das höchste Übel.
b) Ich antworte, unmöglich kann ein Schmerz das höchste Übel sein. Denn jede Traurigkeit oder jeder Schmerz betrifft entweder ein wahres Übel oder etwas was Übel scheint, aber in Wahrheit ein Gut ist. Der Schmerz nun, der auf das wahre Übel geht, kann nicht größtes Übel sein;denn es giebt ein größeres, nämlich: das nicht als wahres Übel erkennen was in Wirklichkeit ein Übel ist und es nicht zurückweisen. Geht aber die Trauer auf ein Übel dem Anscheine nach, was in Wahrheit ein Gut ist, so kann es nicht größtes Übel sein, denn größer ist das Übel, vom wahren Gute fern zu sein. Keine Trauer und kein Schmerz kann also höchstes Übel sein.
c) I. Ein zweifaches Gute ist gemeinsam dem Ergötzen und der Trauer; nämlich 1. das rechte Urteil über das Gute und das Böse, 2. die gebührende Ordnung im Willen, der das Gute billigt und das Böse zurückweist. Und so ist offenbar in jedem Schmerze selber ein gewisses Gute, durch dessen Abwesenheit etwas Schlimmeres vor sich gehen kann Nicht aber in allem Ergötzen ist etwas Übles, durch dessen Entfernung das Ergötzen ein besseres wird. Also kann wohl ein Ergötzen das höchste Gut des Menschen sein; nicht aber kann ein Schmerz das höchsts Übel sein. II. Dies eben selbst daß der Wille einem Übel widerstrebt, ist etwas Gutes; und gerade deshalb kann kein Schmerz das höchste Übel sein, weil er immer eine Beimischung von Gutem hat. III. Schlechter ist das, was dem Besseren schadet als was dem Schlechteren schadet. Ein Übel wird aber, nach Augustin (Enchirid. 12.), so genannt, weil es schadet; also ist das ein schlechteres Übel, was ein Übel der Seele ist wie das, was ein Übel des Körpers ist. Der Grund Augustins also ist kein wirksamer; er stellt ihn aber auch nicht hin als seinen eigenen, sondern als einen dem Sinne eines anderen entnommenen.
