Erster Artikel. Nicht jede Tugend ist eine moralische.
a) Das Gegenteil erhellt aus Folgendem: I. „Moralische“ Tugend wird eine Tugend genannt, wie man etwa sagen würde „sittliche Tugend“; also von der Sitte, von der Gewohnheit her. An alle Tugendakte aber können wir uns gewöhnen. Also jede Tugend ist eine moralische. II. Aristoteles sagt (2 Ethic. 6.): „Die moralische Tugend ist ein Zustand, kraft dessen man gemäß jener Mitte wählt, welche von der Vernunft festgestellt wird.“ Dies ist aber bei jeder Tugend der Fall. III. Cicero sagt (Rhet. 2. de inv.): „Die Tugend ist ein Zustand, der nach Weise der Natur existiert und der Vernunft gemäß ist.“ Jede Tugend aber ist auf das Beste des Menschen gerichtet und entspricht somit der Vernunft. Also jede ist moralisch. Auf der anderen Seite schreibt Aristoteles (1 Ethic. c. ult.): „Wenn wir nun von den Sitten sprechen, so sprechen wir nicht von einem Weisen und Verständigen, sondern von einem Sanften und Nüchternen.“ Also ist Weisheit und Verständnis keine moralische Tugend. Es sind dies aber Tugenden. Also nicht jede Tugend ist eine moralische.
b) Ich antworte; hier müsse zuerst erklärt werden, was das sei „mos“, „Sitte“. Es bezeichnet nämlich dieser Ausdruck bisweilen eine bloße Gewohnheit; wie Act. 15.: „Wenn ihr nicht beschnitten werden seceundum morem Moysi, also nach der von Moses stammenden Gewohnheit.“ Bisweilen aber bezeichnet dies eine gewisse Hinneigung zu etwas, und zwar manchmal eine mit der Natur gegebene und manchmal eine gleichsam natürliche. So sprechen wir von „mores“, von „Sitten“ der Tiere; wie bei 2 Makkab. 11.: „Nach der Sitte der Löwen stürzten sie auf die Feinde und warfen sie nieder; more leonum.“ Und so steht es Ps. 6 : „Der da macht, daß die im Hause wohnen gleiche Sitte haben;“ habitare facit unius moris in domo. Die Griechen unterscheiden auch im Ausdrucke die beiden Bezeichnungen, indem sie ἤθος schreiben oder ἔθος. Nun wird von einer moralischen oder sittlichen Tugend gesprochen, insoweit das „mos“ oder „Sitte“ als Hinneigung zu etwas aufgefaßt wird. Dieser Bedeutung steht jedoch die andere ganz nahe; denn die Gewohnheit wird zur zweiten Natur und macht so eine Hinneigung, die der Natur ähnlich ist. Nun ist es offenbar, daß eine Hinneigung nur dem begehrenden Teile zukommt; dem es gebührt, alle anderen Vermögen in Thätigkeit zu setzen, daß jedes in seiner Weise wirke. Nur also die Tugenden im begehrenden Teile werden „moralische“ genannt.
c) I. Der Einwurf geht von der Bezeichnung „Gewohnheit“ aus. II. Jeder Tugendakt kann aus freier Auswahl heraus gewirkt werden. Die rechte Auswahl aber wird von der Tugend allein verliehen, welche im begehrenden Teile sich findet. Denn oben (Kap. 13, Art. 1.) ist gesagt worden, Wählen sei Sache des begehrenden Teiles. Ein Zustand, um die rechte Auswahl zu treffen, der also das Princip des freien Wählens ist, kann demgemäß nur jener sein, der das begehrende Vermögen vollendet; obgleich auch die Thätigkeiten anderer Zustände Gegenstand der freien Wahl sein können. III. „Die Natur ist das im Dinge befindliche Princip für die Bewegung,“ heißt es 2 Physic. Bewegen aber zum Wirken hin ist eigen dem begehrenden Teile. Ähnlich werden der Natur also dadurch daß man der Vernunft gemäß handelt, ist eigen den Tugenden, die im begehrenden Vermögen sind.
