Zweiter Artikel. Die moralische Tugend ist verschieden von jener, die in der Vernunft ihren Sitz hat.
a) Dementgegen sagt: I. Augustin (4. de civ. Dei 21.): „Die Tugend ist die Kunst, recht zu leben.“ Die Kunst aber ist eine Tugend in der Vernunft. II. Viele setzen in die Definition der moralischen Tugend die „Wissenschaft“; wie z. B.: „Die Beharrlichkeit ist die Wissenschaft oder der Zustand von den Dingen, denen man dauernd anhängen oder nicht anhängen soll;“ und: „Die Heiligkeit ist die Wissenschaft, welche Gläubige macht und solche, die treu halten die Gebote Gottes.“ Wissenschaft aber ist eine Tugend in der Vernunft. Also ist da kein Unterschied zwischen moralischer Tugend und jener in der Vernunft. III. Augustin sagt (1 Soliloq. 6.): „Tugend ist die rechte und vollendete Vernunft;“ was offenbar zur Tugend in der Vernunft gehört. IV. Nichts ist unterschieden von dem, was in seine Begriffsbestimmung gesetzt wird. Die Tugend in der Vernunft aber steht in der Begriffsbestimmung der moralischen Tugend. Denn Aristoteles (2 Ethic. 6.) sagt: „Die moralische Tugend ist ein Zustand, der da Princip der freien Auswahl ist und jene Mitte einhält, welche die Vernunft nach dem Urteile des Weisen festgesetzt hat.“ Die Vernunft aber, welche die einzuhaltende Mittelstraße der Tugend festsetzt, kann nur eine Tugend in der Vernunft besagen. Auf der anderen Seite heißt es (1 Ethic. c. ult.): „Die Tugend bestimmt man nach dieser Unterscheidung: Denn wir bezeichnen die einen Tugenden als in der Vernunft befindliche, die anderen als moralische.“
b) Ich antworte, die Vernunft sei das Princip aller menschlichen Handlungen; und werden noch andere Principien gefunden, so gehorchen dieselben der Vernunft; freilich in verschiedener Weise. Denn die Glieder des Körpers folgen der Vernunft, sind sie anders unversehrt in ihrer Natur, ohne Widerspruch und augenblicklich. Die Hand oder der Fuß z. B. bewegen sich sogleich, wenn die Vernunft gebietet; sie gehorchen, wie Knechte dem Herrn. Es meinten nun manche, alle Principien im Menschen, von denen Thätigkeit ausgeht, seien in der nämlichen Lage. Wenn das wahr wäre, so bedürfte es allerdings nur solcher Tugenden, welche die Vernunft vollendeten; und so bestände keine andere Tugend wie die in der Vernunft. Dies meinte Sokrates, der annahm, alle Tugenden seien Klugheiten, wie 6 Ethic. ult. gesagt wird. Und deshalb bestimmte er, daß der Mensch, sobald er einmal Wissenschaft von etwas hätte, rücksichtlich dessen nicht sündigen könne; jede Sünde sei im Grunde Unkenntnis. Die Voraussetzung jedoch des Sokrates war falsch. Denn der begehrende Teil folgt der Vernunft nicht augenblicklich, sondern mit einem gewissen Widerspruche; es handelt sich hier, wie Aristoteles immer sagt, um eine Herrschaft über Freie, die ein Recht haben, manchmal zu widersprechen. Deshalb sagt Augustin (Ps. 8.): „Bisweilen geht voraus die Vernunft und es folgt langsam oder gar nicht die Neigung.“ Und es wird sogar manchmal durch die Leidenschaften und Zustände des begehrenden Teiles der Gebrauch der Vernunft im einzelnen Falle gehindert. Danach ist einigermaßen wieder wahr, was Sokrates sagte, daß, wenn Wissen da ist, nicht gesündigt wird; es muß jedoch dann dieses Wissen ausgedehnt werden auf den thatsächlichen Gebrauch der Vernunft, soweit es den einzelnen Fall betrifft. So also wird, damit der Mensch gut handle, nicht nur erfordert, daß die Vernunft vollendet sei; sondern daß auch im begehrenden Teile die moralische Tugend als vollendend und aufrichtend existiere. Wie also das Begehren von der Vernunft unterschieden wird, so die moralische Tugend von der in der Vernunft. Und sowie das Begehren das Princip menschlichen Handelns ist, weil es irgendwie an der Vernunft Anteil hat, so hat der moralische Zustand den Charakter der Tugend, soweit er der Vernunft gemäß ist.
c) I. Augustin nimmt „Kunst“ überhaupt für „Richtschnur“. II. Solche Begriffsbestimmungen sind immer ein Ausfluß der Meinung des Sokrates. III. Ebenso. IV. „Die rechte Vernunft“ steht in der Begriffsbestimmung der moralischen Tugend nicht als Teil des Wesens; sondern weil alle Tugenden an der Vernunft Anteil haben, insoweit die Klugheit alle anderen Tugenden leitet.
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