Dritter Artikel. Die Unterscheidung zwischen moralischer Tugend und der in der Vernunft ist ausreichend.
a) Für das Gegenteil spricht: I. Die Klugheit scheint in der Mitte zu stehen zwischen moralischer Tugend und jener, die in der Vernunft sich findet. Denn 6 Ethic. 3. wird sie unter denen, die in der Vernunft sind, aufgezählt; und andererseits nennt man sie unter den Kardinaltugenden, die doch zu den moralischen zählen. Die gegebene Unterscheidung respektive Teilung also ist keine ausreichende. II. Enthaltsamkeit und Beharrlichkeit und Geduld sind keine Tugenden in der Vernunft. Sie sind auch keine moralischen, denn sie halten nicht die Mittelstraße ein zwischen den Leidenschaften; vielmehr sind diese nach einer gewissen Seite hin überwiegend da. Also giebt es noch andere Arten Tugenden. III. Die Hoffnung und Liebe sind keine Tugenden in der Vernunft; denn deren giebt es nur fünf: Wissenschaft und Weisheit, Verständnis, Klugheit und Kunst. Es sind auch keine moralischen Tugenden; denn sie beschäftigen sich nicht mit den Leidenschaften, auf welche an erster Stelle die moralischen Tugenden sich richten. Auf der anderen Seite steht Aristoteles 2 Εthic. 1.
b) Ich antworte, daß die Tugend den Menschen vollendet für das menschliche Handeln. Die Principien des menschlichen Handelns aber sind die Vernunft und das Begehren. Sonach muß alle menschliche Tugend eines von diesen beiden Vermögen vollenden und somit ist alle menschliche Tugend entweder eine in der Vernunft befindliche oder eine moralische.
c) I. Die Klugheit ist, was ihr Wesen anbetrifft, eine Tugend in der Vernunft. Aber sie stimmt überein rücksichtlich des Gegenstandes, den sie hat, mit den moralischen Tugenden; denn sie ist die Richtschnur für das eigene, im Handelnden bleibende Wirken und danach zählt sie zu den moralischen. II. Die Enthaltsamkeit und Beharrlichkeit sind nicht als vollendende Tugenden im sinnlich begehrenden Teile; denn im Enthaltsamen und Beharrlichen sind ungeregelte Leidenschaften im Überflusse vorhanden, was nicht der Fall sein würde, wenn das sinnliche Begehren vollendet wäre durch einen Zustand, welcher es der Vernunft gleichförmig macht. Vielmehr sind diese Tugenden im vernünftigen Teile als vollendende da, in jenem Teile nämlich, der sich aufrecht hält gegenüber den Leidenschaften, daß er nicht verführt werde. Jedoch ist da etwas Mangelhaftes vorhanden, soweit es auf den Charakter der Tugend ankommt. Denn eine Tugend in der Vernunft, welche macht, daß diese sich recht verhält im Bereiche des Moralischen, setzt voraus das rechte Begehren des Zweckes; nämlich daß die Vernunft im rechten Verhältnisse stehe zu den Principien, also zu den Zwecken im Moralischen, da sie ja in ihrem Schließen von den Principien ausgeht; und dies fehlt dem Enthaltsamen und Beharrlichen. Auch kann nicht eine Thätigkeit, die von zwei Vermögen ausgeht, vollendet sein, wenn nicht beide in gebührender Weise vollendet sind durch den entsprechenden Zustand; wie jemand nichts Vollkommenes leistet, wenn das Werkzeug, mit dem er arbeitet, nichts taugt, mag er selber noch so gut es können. Ist also der sinnliche begehrende Teil, welchen der vernünftige in Thätigkeit setzt, nicht vollendet, so wird die erfolgende Handlung immer unvollendet sein; und so wird das Princip solchen Handelns keine eigentliche Tugend vorstellen. Deshalb sind die Enthaltsamkeit von Ergötzlichkeiten und die beharrliche Ausdauer in Traurigem keine Tugenden, sondern etwas weniger, wie Aristoteles sagt. (7 Ethic. 1. et 9.) III. Hoffnung und Liebe sind über die Kräfte der Natur im Menschen; und somit stehen sie höher als die menschlichen Tugenden.
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