Dritter Artikel. Andere Tugenden sind nicht hauptsächlicher als diese vier.
a.) Es scheint im Gegenteil: I. Die Großmut sei hauptsächlicher als diese. Denn an der Spitze einer Seinsart steht immer das Größte in dieser Seinsart. Die Großmut aber wirkt immer in Allem Großes, wie 4 Ethic. 3. es heißt. II. Die Demut bringt hervor und formt die anderen Tugenden; nach Gregor (7 in Evang.): „Wer die übrigen Tugenden ohne die Demut ansammelt, streut Strohhalme in den Wind.“ Also ist die Demut die Haupttugend. III. Was im höchsten Grade vollkommen ist, das scheint an erster Stelle zu stehen. Jakobus aber 1, 4. sagt: „Die Geduld bringt mit sich ein vollkommenes Werk.“ Also ist die Geduld die Haupttugend. Auf der anderen Seite führt Cicero alle Tugenden auf diese vier zurück.
b) Ich antworte, diese vier Tugenden werden Kardinal- oder Haupttugenden genannt wegen der vier Hauptvorzüge, welche in jeder Thätigkeit der Tugend gefunden werden können; und danach sind sie Haupttugenden mit Rücksicht auf alle Tugenden insgesamt. So ist jede Tugend, insofern sie etwas Gutes herstellt in der Erwägung der Vernunft selber, Klugheit; und insofern jede Tugend die Gleichheit im Schulden und Erstatten herstellt, wird sie Gerechtigkeit genannt; jede Tugend aber, wenn sie Leidenschaften zähmt, ist Mäßigkeit; und wiederum wird jede Tugend Stärke genannt, welche innere Festigkeit giebt. Und in dieser Weise sprechen oft die heiligen Lehrer und die Philosophen von diesen Tugenden; so daß nach dieser Auffassung alle Tugenden auf diese zurückgeführt werden. Danach gelten die Einwürfe gar nichts. Nun kann aber auch bei manchen Thätigkeiten und Leidenschaften in hervorragender Weise der Hauptvorzug einer von diesen Tugenden gefunden werden. So wird das Gut der vernünftigen Erwägung in der Vernunft selbst gefunden hervorragenderweise im Befehlen, nicht aber im Raten und Urteilen; und danach ist solche Tugend speciell Klugheit als die leitende, befehlende. Dann wird an erster, maßgebender Stelle das vernunftgemäße Gute gefunden bei den Thätigkeiten im Tauschen und Verteilen gemäß Gleichheit; und danach ist der entsprechende Tugendakt ein specieller Akt der Gerechtigkeit, welche das gebührende Gleichgewicht hält unter denen, die auf gleicher Stufe stehen. So wird ferner das Gute, was sich in der Bezähmung der Leidenschaften findet, an erster Stelle sein in der Bezähmung der Ergötzlichkeiten des Tastsinnes; und danach besteht die specielle Tugend der Mäßigkeit. Endlich ist das Gute der inneren Festigkeit vor allem in den Gefahren des Todes; und danach wird ein entsprechender specieller Tugendakt als der Stärke zugehörig bezeichnet. Dies sind die besonderen speciellen vier Kardinaltugenden, die dann nicht mehr so genannt werden, weil sie einen Hauptvorzug in jeder Tugend darstellen, sondern weil ihr Gegenstand, ihre Materie, eine hohe maßgebende Stelle einnimmt. Andere Tugenden aber können dann nach einer anderen Seite hin hauptsächlicher sein; wenn auch nicht die Materie, die sie behandeln, so hoch steht.
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