Vierter Artikel. Die vier Kardinaltugenden unterscheiden sich voneinander.
a) Diese Tugenden scheinen nicht verschiedene Tugenden zu sein. Denn: I. Gregor (22. moral. 1.) sagt: „Das ist keine Klugheit, die nicht gerecht, mäßig, stark ist; auch ist die Mäßigkeit nicht vollkommen, die nicht klug, gerecht und stark ist; wie ebenso die Stärke keine vollständige ist, welche nicht klug, gerecht und mäßig ist; und endlich ist es keine wahre Gerechtigkeit, welche nicht klug, stark und mäßig ist.“ Also ist das Alles nur eine Tugend. II. Wenn Dinge voneinander unterschieden sind, wird das, was dem einen zugehört, nicht dem anderen zugeteilt. Was aber der Stärke eigen ist, wird als Eigenschaft der Mäßigkeit ausgesagt und umgekehrt; nach Ambrosius (1. de offic. 36.): „Mit Recht wird Jenes Stärke genannt, wenn jemand sich selber überwindet, durch keine Lockungen der Sinne er weicht und gebeugt wird;“ und Kap. 43 und 45: „Die Mäßigkeit bewahrt die richtige Weise und Ordnung in Allem, was wir meinen, daß wir es thun oder sagen müssen.“ III. Aristoteles schreibt (2 Ethic 4.): „Zur Tugend wird dreierlei erfordert: 1. daß man wissend sei; 2. daß man gebührend wähle; 3. daß man fest und unbeweglich dann wirke.“ Das erstere aber gehört zur Klugheit, welche die rechte Richtschnur für das zu Wirkende enthält; das zweite ist der Mäßigkeit zugehörig, daß man nämlich nicht aus Leidenschaft wähle; das dritte, „gebührend“ zu wählen, scheint der Akt der Gerechtigkeit zu sein, welche eine gewisse Geradheit dem Zwecke gegenüber enthält; das vierte ist dasselbe wie die Stärke, vermöge deren man mit Festigkeit wirkt. Somit ist jede dieser vier Tugenden eine allgemeine mit Rücksicht auf alle Tugenden; und da ist kein Unterschied. Auf der anderen Seite sagt Augustin (de morib. Eccl. 15.): „Nach vier Richtungen hin teilt sich die Tugend, welche ihren Ursprung hat in der verschiedenen Hinneigung der Liebe selbst;“ und darauf nennt er die erwähnten vier Tugenden.
b) Ich antworte, diese Kardinaltugenden werden in doppelter Weise betrachtet. Bisweilen nämlich werden sie genommen als gewisse allgemeine Vorzüge des menschlichen Geistes. Dann ist die Klugheit nichts als die Geradheit der Meinung oder der Absicht in irgendwelcher Thätigkeit oder Materie. Die Gerechtigkeit ist jene Geradheit, vermöge deren der Mensch wirkt, je nachdem er es schuldet. Die Mäßigkeit ist jene Verfassung des Geistes, welche den ungeregelten Einfluß der Leidenschaften zurückhält. Die Stärke aber festigt den Menschen in dem, was er der vernünftigen Richtschnur gemäß thut, gegen alle Angriffe und Schwierigkeiten. In dieser Weise aufgefaßt schließen nun diese Vorzüge keine Verschiedenheit in den Zuständen oder Tugenden ein und bedingen eine solche nicht. Denn jedem Zustande kommt eine gewisse Festigkeit zu; er hat Beziehung zum Rechten und Guten; nimmt teil an der Regel der Vernunft und bewahrt sonach in allem die richtige Ordnung und das zukömmliche Maß. Nur das Unterscheiden zwischen dem, was dem Zwecke dient und dem, was nicht dient, scheint, als der Vernunft an sich zukommend, da keine Anwendung zu finden. Sonst finden sich in jeder Tugend diese drei anderen: Die Festigkeit, weil sie ein Zustand ist; die Gerechtigkeit, weil sie eine Tugend ist; die Mäßigkeit, weil sie in das Bereich des Moralischen fällt. Nur die Klugheit allein wäre dann eine für sich bestehende Tugend. Besser aber und mit mehr Recht nehmen andere diese vier Tugenden als voneinander verschiedene, von denen jede ihre eigene Materie hat; und zwar kommt dann in dieser Materie der eben berührte Hauptvorzug in hervorragender Weise zur Geltung.
c) I. Gregor spricht nach der ersten Betrachtungsweise. Oder es kann gesagt werden, diese vier Tugenden werden voneinander her benannt gemäß einem gewissen überfließen der einen in den Akt der anderen. Denn was der Klugheit eigen ist, fließt in die übrigen über, insofern sie von der Klugheit geleitet werden. Und eine jede von den anderen fließt über in ähnlicher Weise, insoweit derjenige, der das Schwierigere kann, auch das was leichter ist vermag. Denn wer zügeln kann die Ergötzungen des Tastsinnes, daß sie nicht das Maß überschreiten, was im höchsten Grade schwer ist; der wird dadurch geeigneter, daß er auch die Kühnheit bezähme in den Gefahren des Todes, daß er nicht zu weit gehe, was viel leichter ist; — und danach wird die Stärke auch Mäßigung genannt. Die Mäßigkeit aber wird stark genannt vom Überfließen der Stärke in die Thätigkeit des Maßhaltens. Wer nämlich den Geist gefestigt hat gegen Todesgefahren, was im höchsten Grade schwer ist, der wird dadurch geeigneter, daß er der Festigkeit des Geistes treu bleibt auch gegenüber den Angriffen der Ergötzungen; denn, wie Cicero sagt (1. de offic.): „Nicht ist es zukömmlich, daß wer durch die Furcht nicht gebrochen wird, unterliege der Begierde; und daß wer der Anstrengung gegenüber unbesiegt geblieben ist, sich von dem Vergnügen überwinden läßt.“ II. Ist damit beantwortet. III. Jene allgemeinen Eigenschaften, die Aristoteles anführt, können auf die vier Kardinaltugenden in entsprechender Weise bezogen werden.
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