Fünfter Artikel. Die Kardinaltugenden werden eingeteilt in „dem Gemeinbesten dienende“, „reinigende“, in Tugenden des „gereinigten Geistes“ und in „Exemplartugenden“.
a) Dies ist unzukömmlich. Denn: I. Makrobius (1. sup. somn. Scip. 8) sagt: „Exemplartugenden nennt man jene, welche im göttlichen Geiste sich finden.“ „Lächerlich aber ist es“ nach Aristoteles (10 Ethic. 8.) „Gott Gerechtigkeit, Stärke, Mäßigkeit und Klugheit zuzuschreiben.“ II. „Tugenden des gereinigten Geistes“ werden jene genannt, welche ohne Leidenschaften sich vorfinden. Denn Makrobius sagt (l. c.): „Die Mäßigkeit des gereinigten Geistes bedeutet, die Begierden nicht zügeln, sondern vollständig vergessen haben; Stärke aber so aufgefaßt heißt, die Leidenschaften nicht zu besiegen, sondern gar nicht zu kennen.“ Derartige Tugenden können jedoch in uns nicht ohne Leidenschaften sein. Also kann man von Tugenden des gereinigten Geistes nicht sprechen. III. „Reinigende Tugenden sollen (nach Makrobius) jenen innewohnen, die das Menschliche fliehen, um sich rein dem Göttlichen zuzuwenden.“ Das aber ist fehlerhaft, nach Cicero (l. de off.): „Die da sagen, sie verachteten, was die meisten bewundern“ nämlich obrigkeitliche Stellen und Macht, „diese erachte ich nicht nur nicht des Lobes, sondern des Tadels würdig.“ IV. „Dem Gemeinbesten dienende Tugenden sollen endlich jene sein, kraft deren gute Männer für den Staat Sorge tragen und die Gemeinwesen beschützen.“ Dazu aber dient allein die öffentliche Gerechtigkeit, die justitia legalis, wie 5 Ethic. 1. gesagt wird. Andere Tugenden also dürfen nicht als „politische“ bezeichnet werden. Auf der anderen Seite sagt Makrobius (l. c.): „Plotinus, unter den Lehrern der Philosophie zugleich mit Plato Führer, lehrt: Vier Arten von Tugenden giebt es: die politischen, welche dem Gemeinbesten dienen, die reinigenden, die des gereinigten Geistes, die Exemplartugenden.
b) Ich antworte, daß Augustin sagt (de morib. Eccl. 1.): „Die Seele muß einem Wesen nachfolgen, damit die Tugend in ihr entstehen könne; und das ist Gott; wenn wir Ihm folgen, werden wir gut leben.“ Also muß das Exemplar der menschlichen Tugend in Gott sich finden, wie ja auch die Exemplaridee aller Dinge da ist. Soweit also die Tugend als in Gott befindlich betrachtet wird, giebt es Exemplartugenden; und zwar die Vernunft selber in Gott wird dann Klugheit genannt. Mäßigkeit ist in Gott, insofern die göttliche Absicht zu Sich selber zurückkehrt und da ruht; wie in uns Mäßigkeit ist, insofern die Begehrkraft gleichförmig wird der Vernunft. Die Stärke Gottes ist dessen Unveränderlichkeit. Seine Gerechtigkeit ist die Beachtung des ewigen Gesetzes in Ihm bei Ausführung seiner Werke; wie Plotinus nach Makrobius lehrt. Und weil der Mensch seiner Natur nach für ein Gemeinwesen, als Glied der Gesellschaft, gemacht ist, werden diese Tugenden „politische“, dem Gemeinbesten dienende, genannt, soweit der Mensch kraft dieser Tugenden sich gut verhält in der Verwaltung menschlicher Angelegenheiten; und das haben wir bereits besprochen. Da aber Sache des Menschen es ist, zu Göttlichem sich hinanzuziehen, wie es 5 Ethic. 7. heißt und dies in der heiligen Schrift vielfach empfohlen wird, z. B. bei Matth. 5.: „Seid vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist“; — so müssen zwischen den „politischen“ und den Exemplartugenden einige in der Mitte liegen, die da unterschieden werden nach der Verschiedenheit der Bewegung und dem Abschlusse, so nämlich daß es einige Tugenden giebt derer, die vom Irdischen fortwandern und zur Ähnlichkeit mit Gott gelangen wollen; und diese werden reinigende genannt. Es verachtet da die Klugheit alles Weltliche um der Betrachtung des Göttlichen willen; die Mäßigkeit übersieht, soweit die Natur es zuläßt, das für den Körper Nötige und Dienliche; die Stärke hält aufrecht, damit die Seele nicht erschrecke vor der Entfernung vom Körper; die Gerechtigkeit macht, daß die ganze Seele einem solchen Wege zum Göttlichen zustimmt und somit keinem Vermögen unrecht geschieht. Manche Tugenden gehören nun noch denen an, welche bereits Gott ähnlich geworden, die „gereinigten Geistes“ sind. Da schaut die Klugheit allein Göttliches an; die Mäßigkeit kennt nicht mehr die Begierden; die Stärke weiß nichts mehr von ihren Feinden, den Leidenschaften; die Gerechtigkeit ist verbunden mit dem göttlichen Geiste und will, was dieser will. Diese Tugenden sind in den Seligen oder in denen, die hier auf Erden die höchste Vollkommenheit erklommen haben.
c) I. Aristoteles spricht von diesen Tugenden, soweit sie menschliche Dinge betreffen; die Gerechtigkeit z. B. Kauf und Verkauf, die Stärke sich bezieht auf die Furcht etc. II. Die menschlichen Tugenden sind mit Leidenschaften, soweit sie hier auf Erden geübt werden; bei den Seligen sind sie ohne Leidenschaften. Plotinus sagt deshalb: „Die politischen Tugenden machen weich die Leidenschaften“ d. h. sie ziehen darin die rechte Mitte; „die reinigenden nehmen die Leidenschaften fort; die des gereinigten Geistes vergessen dieselben; bei den Exemplartugenden wäre es ein Verbrechen, die Leidenschaften auch nur zu nennen.“ Plotinus kann hier jedoch auch von Leidenschaften sprechen als ungeregelten Thätigkeiten. III. Die menschlichen Geschäfte zurZeit der Not verlassen, ist fehlerhaft. Deshalb fügt Cicero hinzu: „Denen kann vielleicht gestattet werden, daß sie mit den Staatsgeschäften sich nicht befassen, welche ausgezeichnet sind in der Wissenschaft; oder denen, welche Krankheit oder eine andere wichtige Ursache daran hindern; sie überlassen den Ruhm der Verwaltung der Staatsgeschäfte und die Macht anderen.“ Und Augustin (19. de civ. Dei 19.): „Die Liebe der Wahrheit sucht nach heiliger Muße; die Notwendigkeit, welche von der Liebe aufgelegt wird, nimmt auf sich gerechte Verwaltung. Wenn niemand diese Last auflegt, so soll man die Wahrheit mit Muße erforschen und innerlich anschauen; wird die Last aufgelegt, dann soll man aus Liebe gehorchen der Notwendigkeit.“ IV. Die öffentliche Gerechtigkeit allein berücksichtigt das Gemeinbeste. Aber durch ihren Befehl beeinflußt sie alle Tugenden zu demselben Zwecke hin; denn zum allgemeinen Besten gehört es auch, für sein Haus und seine Person gut zu sorgen.
