Zweiter Artikel. Die Tugenden in der Vernunft bleiben nach diesem Leben.
a) Dagegen spricht: I. 1. Kor. 13.: „Die Wissenschaft wird zerstört werden;“ und der Grund davon ist, „weil wir nur teilweise erkennen.“ Wie aber die Kenntnis, die der Wissenschaft eigen ist, eine teilweise d. h. unvollkommene ist, so auch die aller anderen Tugenden der Vernunft, solange dieses Leben andauert. Also werden alle solche Tugenden mit diesem Leben aufhören. II. Die Wissenschaft wird verloren infolge starker körperlicher Erschütterung oder infolge von Krankheit. Keine stärkere Erschütterung aber oder Krankheit giebt es wie der Tod. III. Die Thätigkeit der Vernunft besteht nicht ohne Phantasiebilder. (3. de anima.) Da also die Tugend da ist um der Thätigkeit willen und eine vernünftige Thätigkeit ohne Phantasiebilder d. h. ohne Körperliches nicht statthat, so bleiben keine Tugenden der Vernunft nach diesem Leben. Auf der anderen Seite ist stärker und zuverlässiger die Kenntnis, welche sich auf die allgemeinen und in sich notwendigen Begriffe erstreckt wie jene, die Besonderheiten und Einzelheiten zum Gegenstande hat. Letztere Kenntnis aber bleibt, wie es Luk. 16, 25. heißt: „Denke daran, wie dir mit Gutem vergolten worden ist in deinem Leben; und dem Lazarus mit Schlechtem.“ Also bleibt um so mehr die Kenntnis des Allgemeinen und Notwendigen, was der Wissenschaft und ähnlichen Tugenden entspricht.
b) Ich antworte; nach einigen gehe, wie I. Kap. 79, Art. 6. hervorgehoben wurde, die geistige Erkenntnisform, die Idee, wieder vorüber, wenn der thatsächliche Erkenntnisakt vorbei sei und fände gar kein Aufbewahren dieser inneren Erkenntnisformen statt, außer etwa in den sinnlichen Kräften mit Hilfe der Organe der Einbildungskraft und der Gedächtniskraft. Da nun diese Kräfte mit dem Körper vergehen, so würde nach diesem Leben keine Wissenschaft und somit gar keine Tugend der Vernunft zurückbleiben. Diese Meinung aber ist gegen Aristoteles, der (3. de anima) sagt: „Die mögliche Vernunft ist thatsächlich erkennend, wenn sie das Einzelne als solches erkennt, also thatsächlich weiß; während sie vorher im Zustande des Vermögens für diese Kenntnis des Einzelnen war.“ Sie ist auch gegen die Vernunft selber. Denn die Erkenntnisformen werden in der Vernunft als unverrückbar aufgenommen nach der Existenzweise des aufnehmenden Vermögens, das unvergänglich ist; so daß danach gerade die „mögliche“ Vernunft der „Ort der Ideen oder Erkenntnisformen“, locus specierum, genannt wird, weil sie die Ideen in sich aufbewahrt. Die Phantasiebilder aber, zu denen der Mensch sich wenden muß, um in diesem Leben thatsächlich zu erkennen, vergehen mit dem Körper, wie I. Kap. 85, Art. 1. u. 2. auseinandergesetzt worden. Also mit Rücksicht auf die Phantasiebilder, die gleichsam das material bestimmbare Moment in den Tugenden der Vernunft vorstellen, vergehen mit dem Körper auch die Tugenden in der Vernunft. Mit Rücksicht aber auf die geistigen Erkenntnisformen in der „möglichen“ Vernunft, als dem formal bestimmenden Moment in den Tugenden der Vernunft, bleiben diese letzteren nach dem irdischen Leben; wie das ähnlich bei den moralischen der Fall ist.
c) I. Das Wort des Apostels bezieht sich auf das material bestimmbare Moment in den erwähnten Tugenden und auf die Art und Weise des thatsächlichen Erkennens. Weder nämlich die Phantasiebilder bleiben nach dem Tode noch erkennt man da thatsächlich dadurch, daß man sich zu den Phantasiebildern wendet. II. Die Phantasiebilder werden verdorben durch Krankheit; und nicht die Ideen. III. Die vom Leibe getrennte Seele hat eine andere Art und Weise thatsächlich zu erkennen; und so bleibt die Wissenschaft selber. (I. Kap. 89, Art. 1.)
