Sechster Artikel. Alle menschlichen Angelegenheiten unterliegen dem ewigen Gesetze.
a) Dies scheint nicht so ganz wahr. Denn: I. Paulus schreibt Gal. 5.: „Wenn ihr durch den Geist Gottes geleitet werdet, so seid ihr nicht unter dem Gesetze.“ Die Gerechten aber werden durch den Geist Gottes geleitet nach Röm. 8.: „Wer durch den Geist Gottes geleitet wird, der ist ein Kind Gottes.“ Also sind sie nicht unter dem Gesetze. II. Röm. 8. wird gesagt: „Die Klugheit des Fleisches ist Gott feind; dem Gesetze Gottes ist sie nicht unterworfen.“ Viele Menschen aber werden beherrscht durch die Klugheit des Fleisches und sind somit dem ewigen Gesetze nicht unterworfen. III. Augustinus sagt (1. de lib. arbitr. 6.): „Das ewige Gesetz ist jenes, wonach die Bösen Elend, die Guten seliges Leben verdienen.“ Die bereits seligen oder verdammten Menschen aber sind nicht mehr im Zustande des Verdienens. Auf der anderen Seite schreibt Augustin (19. de civ. Dei 12.): „In keiner Weise kann etwas den Gesetzen des höchsten Erschaffers und seinem Befehle entzogen werden, von dessen Leitung der Frieden des All herrührt.“
b) Ich antworte, am ewigen Gesetze nehme etwas teil entweder so, daß es dasselbe kennt; oder so, daß das innerliche bewegende Princip im selben für das wechselseitige Thätigsein und Leiden, für das Bestimmen und Bestimmtwerden, vom ewigen Gesetze kommt. In der zweiten Weise nehmen die vernunftlosen Dinge teil am ewigen Gesetze. Weil aber der vernünftigen Natur zugleich mit dem, was sie mit allen Kreaturen gemeinsam hat, etwas ihr Eigentumliches zukommt, insoweit sie vernünftig ist; deshalb unterliegt sie in beiderseitiger Weise dem ewigen Gesetze. Denn sie hat einerseits eine gewisse Kenntnis des ewigen Gesetzes; und andererseits wohnt ihr eine natürliche Hinneigung inne zu dem, was mit dem göttlichen Gesetze übereinstimmt. „Von Natur sind wir geeignet, Tugenden zu haben;“ heißt es 2 Ethic. in princ. Beiderlei Weise aber ist unvollkommen und gewissermaßen verdorben in den Bösen; in ihnen wird sowohl die natürliche Hinneigung zur Tugend verschlechtert durch lasterhafte Zustände, als auch wird die natürliche Kenntnis des Guten umdüstert durch Leidenschaften und Sünden. In den Guten jedoch besteht die beiderseitige Weise in vollkommenerem Grade; denn über die Natur hinaus wird ihnen die Kenntnis des Glaubens und der Weisheit zu teil und über die natürliche Hinneigung hinaus wird ihnen innerlich der Beweggrund der Gnade und der Tugend hinzu verliehen. Die Guten also sind vollkommen unter dem ewigen Gesetze; denn sie handeln immer danach. Die Bösen aber sind in unvollkommener Weise unter dem ewigen Gesetze, soweit es auf ihre Thätigkeit ankommt. Denn unvollkommen ist ihre Kenntnis und unvollkommen ihre Hinneigung zur Tugend. Was aber von seiten der Thätigkeit mangelt, das wird ersetzt von seiten der Leidenschaften; denn insoweit leiden sie das, was das ewige Gesetz betreffs ihrer diktiert, als sie ermangeln zu thun, was dem ewigen Gesetze entspricht. Deshalb sagt Augustin (1. de lib. arbitr. 15.): „Ich erachte, daß die Gerechten unter dem ewigen Gesetze handeln“; und (de catechiz. rudibus 18.): „Gott weiß auf Grund des verdienten Elends der Seelen, welche Ihn verlassen, durch äußerst entsprechende Gesetze die niedrigeren Teile seiner Natur zu regeln.“
c) I. Einmal kann das Wort des Apostels verstanden werden von jenem, der dem Gesetze nicht Unterthan sein will und es trotzdem gezwungenerweise ist; wonach Augustin (de nat. et grat. 57.) bemerkt: „Unter dem Gesetze ist, wer aus Furcht vor Strafe, nicht aus Liebe zur Gerechtigkeit vor dem sich hütet, was das Gesetz androht.“ Auf diese Weise sind die „geistigen“ Männer nicht unter dem Gesetze; denn kraft der heiligen Liebe in ihren Herzen thun sie gern, was das Gesetz befiehlt. Dann kann der heilige Text so aufgefaßt werden, daß die Werke jenes Menschen, der durch den heiligen Geist getrieben wird, mehr Werke des heiligen Geistes genannt werden wie Werke des Menschen selber. Wie also der heilige Geist nicht unter dem Gesetze ist gleich dem Sohne, so sind auch insoweit solche Werke nicht unter dem Gesetze. Das bezeugt zudem 2. Kor. 3.: „Wo der Geist des Herrn herrscht, da ist Freiheit.“ II. Die Klugheit des Fleisches unterliegt nicht dem ewigen Gesetze, weil sie zu Thätigkeiten hinneigt, die dem göttlichen Gesetze entgegen sind. Sie unterliegt aber in dem Sinne, weil sie verdient, Strafe zu leiden gemäß dem Gesetze der göttlichen Gerechtigkeit. Jedoch herrscht in keinem Menschen die Klugheit des Fleisches so vollständig, daß sie das ganze Gute in der Natur verderbe; und so bleibt im Menschen immer die natürliche Hinneigung zu dem, was dem ewigen Gesetze entspricht. Niemals nämlich entfernt die Sünde das ganze natürliche Gute. III. Durch das Nämliche wird etwas bewahrt, nachdem es den Zweck erreicht hat, wodurch es zum Zwecke hinbewegt worden ist; wie durch die gleiche Schwere der Körper in der Tiefe ruht, durch welche er dahin hinabgesunken. Wodurch also jemand die ewige Strafe oder Belohnung verdient hat, dadurch ist und bleibt er auch im Himmel oder in der Hölle; nämlich durch das ewige Gesetz.
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