Erster Artikel. Das Recht ist der Gegenstand der Gerechtigkeit.
a.) Dies wird bestritten. Denn: I. Der Rechtserfahrene Celsus sagt (lib. 1. de just. et jure): „Das Recht ist die Kunst, deren Gegenstand das Gute und Billige ist.“ Kunst aber besagt eine Tugend selber in der Vernunft, also nicht den Gegenstand einer solchen. II. „Das Gesetz ist eine Art Recht,“ sagt Isidor. (5 Etymol. 3.) Das Gesetz aber ist nicht Gegenstand der Gerechtigkeit, sondern vielmehr der Klugheit; weshalb Aristoteles ja einen Teil oder eine Gattung Klugheit „die gesetzgeberische“ nennt. (6 Ethic. 8.) III. Die Gerechtigkeit unterwirft in erster Linie den Menschen Gott; denn Augustin sagt (de morib. Eccl. 15.): „Die Gerechtigkeit ist eine Liebe, welche Gott allein dient und deshalb gut dem Übrigen vorschreibt, was dem Menschen unterworfen ist.“ Das Recht aber bezieht sich mcht auf Göttliches, sondern nur auf Menschliches; sagt doch Isidor (5 Etymol. 2.): „Satzung (fas) ist göttliches Gesetz, Recht (jus) das menschliche.“ Auf der anderen Seite schreibt Isidor (l. c. 3.): „Recht ist es genannt worden, weil es gerecht ist.“ Das Gerechte aber ist Gegenstand der Gerechtigkeit; denn Aristoteles sagt (5 Ethic. 1.): „Alle nennen einen solchen Zustand gerecht, gemäß dem wir das Gerechte thun.“ Also ist Recht der Gegenstand der Gerechtigkeit.
b) Ich antworte, der Gerechtigkeit sei es vor allen Tugenden eigen, daß sie die Beziehung des einen Menschen zum anderen regelt. Denn sie schließt eine gewisse Gleichheit ein, wie der Name selbst beweist; jemandem oder einer Sache gerecht werden, heißt nämlich ausgleichen was vorher ungleich war. Jede Gleichheit aber schließt die Beziehung zu etwas Anderem ein. Die anderen Tugenden nun vollenden den Menschen nur in dem, was ihm als solchem zukommt. Was also recht oder tugendhaft ist in anderen Tugendwerken, wonach somit wie nach dem eigens entsprechenden Gegenstande gestrebt wird, findet sein Maß nur im Verhältnisse zu der einzelnen Person, die da wirkt; was aber recht oder tugendhaft ist im Werke der Gerechtigkeit, das wird als solches hingestellt nicht so sehr kraft des richtigen Verhältnisses zum wirkenden selber, sondern auch kraft des Verhältnisses zum anderen. Denn in unserem Wirken wird Jenes als gerecht bezeichnet, was unter dem Gesichtspunkte der Gleichheit dem anderen entspricht, wie wenn z. B. der dem geleisteten Dienste gebührende Lohn gezahlt wird. So wird also gerecht genannt etwas, insoweit es die Geradheit der Gerechtigkeit hat; in dem somit das Thätigsein der Gerechtigkeit seinen Abschluß findet, abgesehen davon wie und in welcher Weise es vom wirkenden her geschieht. Dagegen wird in den anderen Tugenden nur etwas als recht und gerade bestimmt, insoweit es irgendwie zum wirkenden selber im Verhältnisse steht und von ihm aus geschieht Danach wird der Gegenstand, den die Gerechtigkeit an sich und im eigentlichsten Sinne kraft ihres Wesens hat, im Unterschiede von allen anderen Tugenden bestimmt und wird genannt das „Gerechte“. Dieses nun ist das „Recht“. Also ist offenbar das Recht Gegenstand der Gerechtigkeit.
c) I. Es ist etwas ganz Gewöhnliches, daß die Namen von ihrer ersten und grundlegenden Bezeichnung aus zur Bezeichnung von etwas Anderem herangezogen werden. So ist die „Medizin“ zuerst das Heilmittel für einen kranken; dann aber ist der Ausdruck herangezogen worden zur Bezeichnung der Kunst, kraft deren geheilt wird, die man auch kurz „Medizin“ nennt; wie z. B. Medizin studieren. Und in derselben Weise ist als „Recht“ bezeichnet worden zuvörderst die gerechte Sache selber; und nachher ist der Ausdruck herangezogen worden, um die Kunst zu bezeichnen, wodurch man erkennt, was gerecht ist; und weiter, um den Ort zu bezeichnen, wo was „Recht“ ist entschieden wird: „vor Gericht, d. h. vor dem Rechte erscheinen;“ und endlich wird „Recht“ gesprochen von dem, dessen Amt es ist, Gerechtigkeit herzustellen, obgleich das, was er entscheidet, oft ungerecht ist. II. Sowie von dem, was kraft der Kunst geschieht, eine gewisse maßgebende Regel im Geiste des Künstlers vorherbesteht, welche als Regel der Kunst bezeichnet wird, so existiert auch vom gerechten Werke, wozu die Vernunft bestimmt, ein gewisser maßgebender Grund im Geiste vorher, wie gewissermaßen eine Klugheitsregel; und wird solcher maßgebender Grund aufgeschrieben, so nennt man dies „Gesetz“. Denn „Gesetz ist“, sagt Isidor (5 Etymol. 3.), „eine geschriebene Regel“. Deshalb ist das Gesetz nicht das Rechtsregel-Recht selber, sondern eine etwaige im Geiste befindliche maßgebende Regel für das Recht. III. Die Gerechtigkeit bedeutet Gleichheit. Gott aber gegenüber können wir nicht das Gleiche vergelten; also das, was „gerecht“ ist dem inneren vollkommenen Wesen nach, können wir Gott gegenüber nicht thun. Und deshalb wird das göttliche Gesetz nicht eigentlich „Recht“ genannt, sondern Satzung, Gebot (fas); denn es genügt, daß wir Gott gegenüber erfüllen was wir können. Die Gerechtigkeit aber will, daß der Mensch Gott vergelte, soweit er kann; daß er nämlich ganz und gar Ihm seine Seele unterwerfe.
