Erster Artikel. Über die Pflicht, anzuklagen.
a) Der Mensch ist nicht verpflichtet, anzuklagen. Denn: I. Keiner wird durch die Sünde von seiner Pflicht entbunden und aus der Sünde Vorteil ziehen. Auf Grund von Sünden aber werden manche ungeeignet, um als Ankläger aufzutreten, wie die exkommunizierten, ehrlosen und andere. II. Alle Verpflichtung kommt aus der heiligen Liebe, nach Röm. 13.: „Keinem seid etwas schuldig, außer daß ihr euch gegenseitig liebet.“ Was man aber aus Liebe thut, das muß man allen, auch den Oberen gegenüber, thun. Da nun die untergebenen ihre Vorgesetzten nicht anklagen dürfen, hat keiner die Verpflichtung, als Ankläger zu dienen. III. Niemand ist zu etwas verpflichtet, was der Treue zuwider erscheint, die jemand dem Freunde schuldet; denn niemand muß dem anderen anthun, was er nicht will, daß man ihm anthue. Jemanden anklagen ist aber bisweilen gegen die dem Freunde geschuldete Treue, nach Prov. 11.: „Wer mit Lug und Trug umgeht, enthüllt das Anvertraute; wer treu ist, verbirgt das Geheimnis des Freundes.“ Also besteht keine allgemeine Pflicht für den Menschen, den Ankläger zu machen. Auf der anderen Seite heißt es Lev. 5.: „Wenn die Seele sündigt, daß sie die Stimme des fluchenden hört und Zeuge ward von dem,was sie gesehen oder erfahren, und es nicht anzeigt, so wird sie tragen ihre Bosheit.“
b) Ich antworte, zwischen der einfachen Anzeige oder dem Berichte und einer Anklage bestehe, wie oben gesagt, dieser Unterschied, daß die einfache Anzeige der Besserung des anderen dient, die Anklage der Bestrafung des Verbrechens. Die Strafen aber sind hier auf Erden Heilmittel und dienen entweder der Besserung des Sünders oder dem Besten des Gemeinwesens, dessen Ruhe durch die Bestrafung der Übelthäter gesichert wird. Den ersten Zweck nun erstrebt die Anzeige, den zweiten die öffentliche Anklage. Ist das Verbrechen also derart, daß es zum Nachteile des Gemeinwesens gereicht, so ist der einzelne zur öffentlichen Anklage gehalten, sobald er nur beweisen kann, was er vorbringt. Fehlt eine dieser zwei Bedingungen, d. h. hat die Menge keinen Nachteil von der betreffenden Sünde oder kann diese letztere nicht unter genügenden Beweis gestellt werden, so besteht keine Pflicht für die Anklage; denn ist niemand zu dem gehalten, was er nicht gebührenderweise vollenden kann.
c) I. Nichts steht dem entgegen, daß ein Mensch durch die Sünde ungeeignet werde für etwas, wozu die Menschen gehalten sind; wie z. B. zum Empfange der Sakramente, zum Verdienen des ewigen Lebens. Das heißt aber nicht Vorteil haben aus der Sünde. Im Gegenteil bedeutet dies: nicht thun können, wozu man gehalten ist, eine höchst schwere Strafe; denn Tugendaktc sind die Vollendung des Menschen. II. Wenn die untergebenen aus schlechter Absicht ihre Oberen anschwärzen und tadelnswert erscheinen lassen wollen oder wenn diese untergebenen, die ihre Oberen anklagen wollen, unter dem Verdachte von Verbrechen stehen (2 Qq. 7. cap. Clericus), ist es ihnen verboten, die Oberen anzuklagen. Sonst können sie es; nämlich aus Liebe zu ihren Oberen. III. Geheimnisse enthüllen zum Nachteile der betreffenden Person, ist gegen die Treue; — sie enthüllen wegen des Gemeinbesten, ist Pflicht; denn letzteres wiegt immer allem Privatvorteile vor. Also gegen das Gemeinbeste ist es nicht erlaubt, ein Geheimnis zu behalten. Und doch kann auch dies nicht gerade als ein Geheimnis betrachtet werden, was man durch geeignete Zeugen beweisen kann.
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