Dritter Artikel. Die Unterlassung ist eine besondere Sünde.
a) Dies scheint nicht. Denn: I. Jede Sünde ist Erb- oder persönliche Sünde. Die Unterlassung aber ist nicht die Erbsünde; sie ist auch keine persönliche Sünde, da eine solche doch nur durch einen persönlichen Akt vollbracht werden kann. Also ist sie gar keine besondere Sünde. II. Alle Sünde ist etwas Freiwilliges. Die Unterlassung aber ist manchmal ohne jegliches freiwillige Moment. III. Für jede Sünde kann ein Zeitpunkt bestimmt werden, in dem sie beginnt. Das kann man aber nicht für die Unterlassung; denn so oft jemand etwas nicht thut, verhält er sich in gleichmäßiger Weise und sündigt trotzdem nicht immer. Also ist die Unterlassung keine besondere Sünde. IV. Jede besondere Sünde steht einer besonderen Tugend gegenüber. Es giebt aber keine besondere Tugend, zu der die Unterlassung in Gegensatz stände, denn jedes Tugendwerk kann unterlassen werden; und selbst die Gerechtigkeit, zu der sie in eigener Weise in Gegensatz zu stehen scheint, erfordert beim Vermeiden des Bösen einen gewissen Akt; während das Unterlassen ohne allen Akt sein kann. Auf der anderen Seite sagt Jakob. 4, 17.: „Der da weiß das Gute und es nicht thut, der sündigt.“
b) Ich antworte, die Unterlassung sei ein Beiseitelassen des Guten und zwar des Guten, was man schuldig ist zu thun; und somit gehöre sie recht eigentlich in das Bereich der Gerechtigkeit: und zwar in das der gesetzlichen, wenn das Geschuldete in Beziehung steht zum göttlichen oder menschlichen Gesetze; in das der besonderen Gerechtigkeit, wenn das Geschuldete genommen wird, mit Rücksicht auf den Nächsten. Wie also die Gerechtigkeit eine besondere Tugend ist (Kap. 58, Art. 6 u. 7), so ist die Unterlassung eine besondere Sünde, unterschieden von den Sünden, die zu anderen Tugenden im Gegensatze stehen; — und wie „das Gute thun“, dem die Unterlassung gegenübersteht, ein besonderer Teil der Gerechtigkeit ist, geschieden vom „Meiden des Bösen“, dem die Übertretung gegenübersteht, so wird auch die Unterlassung unterschieden von der Übertretung.
c) I. Die Unterlassung gehört zu den persönlichen Sünden; nicht als ob ein persönlicher Akt ihr wesentlich wäre, sondern weil die Leugnung eines Aktes zurückgeführt wird auf die „Art“ des betreffenden Aktes; und danach wird das „Nichtthätigsein“ wie ein gewisses „Thätigsein“ betrachtet. II. Die Unterlassung erstreckt sich nur auf das Gute, was man schuldig ist zu thun. Keiner ist gehalten, das Unmögliche zu thun. Wer also unterläßt, was er nicht thun kann, der sündigt nicht durch Unterlassung. So begeht z. B. ein Weib, das Keuschheit gelobt hat und verletzt worden ist, nicht eine Unterlassungssünde, weil sie die Jungfräulichkeit nicht hat; sondern weil sie nicht bereut oder weil sie nicht ihr Möglichstes thut, um durch Beobachtung der Enthaltsamkeit das Gelübde zu erfüllen. Auch ein Priester ist nicht gehalten, Messe zu lesen außer wenn er dies schuldet; ist Letzteres nicht der Fall, so sündigt er nicht durch Unterlassung. Ähnlich ist jemand zur Wiedererstattung gehalten, vorausgesetzt daß er im Vermögen dazu ist; hat er dies nicht und thut er sonst sein Möglichstes, so sündigt er nicht durch Unterlassung. III. Wie die Übertretung den negativen, so ist die Unterlassung den affirmativen Geboten entgegengesetzt, welche nicht für immer verpflichten, sondern nur für gewisse Zeit und bestimmte Verhältnisse; und einzig mit Bezug auf diese Zeit und diese Verhältnisse kann von einer Unterlassungssünde die Rede sein. Ist nun jemand für diese bestimmte Zeit ohne seine Schuld unfähig, um das Geschuldete zu thun, so liegt keine Unterlassungssünde vor. Ist er mit seiner Schuld unfähig dafür (wenn er z. B. sich abends betrunken hat und des anderen Tages nicht in die pflichtmäßige Messe gehen kann), so sagen manche, die Sünde der Unterlassung beginne dann, als er sich jenem Unerlaubten zuwandte, was mit der pflichtmäßigen Handlung nicht verträglich war. Dies ist aber nicht wahr. Denn vorausgesetzt daß der trunkene des Morgens aufgerüttelt wird und in die Messe geht, so ist da keine Unterlassungssünde; die Trunkenheit ist in diesem Falle nicht die Unterlassung, sondern deren Ursache. Dann also erst wird die Unterlassung Schuld oder Sünde, wenn die Zeit da ist, um zu wirken; die Unterlassung wird aber eine freiwillige wegen der vorhergehenden Ursache, deren Unverträglichkeit mit der Pflicht man voraus sehen konnte. IV. Die Unterlassung als das geschuldete Gute betreffend gehört in das Bereich der Gerechtigkeit. Mehr nun wird erfordert zum verdienstvollen Tugendakte wie zum Mißverdienste der Schuld; — denn zu etwas Gutem müssen alle betreffenden Ursachen mitwirken; fehlt aber eine einzige, so genügt das bereits, um etwas Übles herzustellen. Zum Verdienste der Gerechtigkeit also gehört ein Akt, nicht aber zur Unterlassung.
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