Erster Artikel. Die Lüge ist immer entgegengesetzt der Wahrheit.
a) Das scheint unwahr. Denn: I. Die Lüge kann zusammensein mit der Wahrheit: „Wer nämlich Wahres spricht, aber glaubt, es sei falsch, der lügt,“ sagt Augustin (de mendac. 3.) Also ist da kein Gegensatz. II. Die Tugend der Wahrheit besteht in Worten und Thaten; wo gegen die Lüge bloß in Worten besteht, nach Augustin (l. c. 12.): „Die Lüge ist eine falsche Bezeichnung des Wortes.“ Also ist da kein voller direkter Gegensatz. III. Nach Augustin (I. c.) „ist die Schuld des Lügners die Begierde zu täuschen.“ Das aber steht vielmehr der Gerechtigkeit oder der Liebe entgegen. Auf der anderen Seite schreibt Augustin (l. c. 4.): „Niemand zweifle daran, jener lüge, der um zu täuschen Falsches sage.“ Das Aussprechen des Falschen also auf Grund des Willens ist eine offenbare Lüge. Das aber ist im Gegensatze zur Wahrheit.
b) Ich antworte, der moralische Akt habe seinen Wesenscharakter vom Gegenstande und vom Zwecke. Denn der Zweck ist Gegenstand des Willens, der da in erster Linie alle Vermögen im Menschen in Thätigkeit setzt. Das vom Willen aus in Bewegung gesetzte Vermögen aber hat seinen eigenen Gegenstand; und dieser ist der nächste Gegenstand des freiwilligen Aktes und verhält sich im Willensakte zum Zwecke wie das Bestimmbare zum Bestimmenden. Nun besteht die Tugend der Wahrheit im Offenbarmachen und dieses geschieht vermittelst einiger Zeichen; somit ist diese Offenbarung oder dieses Aussprechen eine Thätigkeit der Vernunft, die das Zeichen mit dem Bezeichneten vergleicht; — denn das Darstellen von etwas ist immer ein gewisses Vergleichen und gehört deshalb der Vernunft an. Demgemäß können die Tiere wohl etwas offenbar machen, aber sie beabsichtigen nicht das Offenbarmachen; sondern infolge natürlichen Antriebes sind sie thätig, und dieser Thätigkeit folgt das Offenbarmachen. Insoweit jedoch solches Offenbaren eine moralische Thätigkeit ist, muß sie freiwillig sein und vom Willen abhängen. Der Gegenstand aber des Offenbarens oder Aussprechens ist das Wahre oder Falsche. Und die Absicht des Willens kann sich auf zweierlei erstrecken: 1. daß Falsches ausgesprochen; und 2. daß der andere getäuscht werde, was die Wirkung eines falschen Satzes ist. Wird also Falsches gesprochen und geschieht dies mit Absicht und zudem mit der Absicht zu täuschen; — dann besteht 1. das materiale oder bestimmbare Element: das Falsche; 2. das formale, bestimmende: die Absicht, Falsches zu sagen; 3. die eigenste beabsichtigte Wirkung: den anderen zu täuschen. Das Wesen der Lüge nun wird vom formalen Elemente genommen, von da her nämlich, daß jemand den Willen hat, Falsches zu sagen. Sagt also jemand Falsches und meint, es sei wahr; so ist dies im materialen Sinne falsch. Es besteht da nicht der vollendete Wesenscharakter der Lüge; denn was nicht beabsichtigt ist, kann im Moralischen nicht bestimmende Wesensform sein. Ist aber etwas wahr, was jemand sagt, dieser aber hat den Willen, etwas Falsches zu sagen; so ist das wesentlich oder formal eine Lüge, wenn es auch Material Wahrheit sein mag. Daß aber jemand den anderen durch die Lüge täuschen will, gehört zum inneren Wesen der Lüge nicht; wohl aber bildet dies eine gewisse Vollendung derselben. So kann auch im Bereiche des rein Natürlichen ein Ding die innere Wesensform haben, und doch fehlt deren Wirkung; wie wenn ein schwerer Körper mit Gewalt in der Höhe festgehalten wird, damit er nicht gemäß dem daß seine Form es erheischt herunterfalle. Lügen also steht durchaus wesentlich entgegen der wahren Aussage.
c) I. Jegliches Ding wird nach seiner Wesensform in erster Linie beurteilt; nicht nach etwas Nebensächlichem, von außen Hinzutretendem. Also mehr ist der Wahrheit als moralische Tugend entgegengesetzt, daß jemand Wahres sage, aber mit dem Willen, Falsches zu sagen; als daß er Falsches sage mit dem Willen, Wahres zu sagen. II. Worte sind die vorzüglichsten Zeichen. Unter dem Ausdrucke „falsche Bezeichnung eines Wortes“ wird also jegliches Zeichen verstanden. Wer mit Winken z. B. Falsches mitteilt, lügt ebenfalls. III. Die Begierde zu täuschen ist eine gewisse Vollendung der Lüge; nicht ihr inneres Wesen.
