Vierter Artikel. Nicht jede Lüge ist eine Todsünde.
a) Jede Lüge ist Todsünde. Denn: I. Ps. 5. heißt es: „Du wirst verderben alle, welche Lüge sprechen;“ und Sap. 1.: „Der Mund, welcher lügt, tötet die Seele.“ II. Die Lüge ist gegen das neunte Gebot; also Todsünde. III. Augustin (1. de doctr. christ. 36.) schreibt: „Niemand, der lügt, bewahrt den guten Glauben und das Vertrauen. Denn er will, daß man glaubt, da er doch lügt; und er selber hält diesen guten Glauben nicht fest. Wer aber solch guten Glauben und solches Vertrauen verletzt, ist gottlos.“ Also ist da von läßlicher Sünde nicht die Rede. IV. Den ewigen Lohn verliert man nur durch eine Todsünde. Betreffs der Hebammen (vgl. ob.) in Ägypten aber sagt Gregor (18. moral. 4.): „Bei der Vergeltung, welche den Hebammen wird, erkennt man, was Schuld der Lüge verdient; denn der ewige Lohn, den sie für ihr Wohlverhalten hätten, wird wegen der Schuld ihrer Lüge verwandelt in einen zeitlichen.“ Die Lüge der Hebammen aber war eine Notlüge und somit der am wenigsten sündhaften Art zugehörig. Also ist jede Lüge Todsünde. V. Augustin sagt (l. c. 17.): „Vorschrift ist es der vollkommen nicht nur gar nicht lügen; sondern auch nicht wollen lügen.“ Etwas aber gegen eine Vorschrift oder ein Gebot thun ist schwere Sünde. Also ist jede Lüge der vollkommenen eine Todsünde, somit aber auch die Lüge aller anderen; sonst wäre die Lage der vollkommenen eine schlechtere. Auf der anderen Seite sagt Augustin zu Ps. 5.: „Zwei Arten Lüge giebt es, wo nicht eine schwere Schuld vorliegt, wenn auch immer eine Schuld damit verbunden erscheint: die Scherzlüge und wenn wir, dem Nächsten zu helfen, lügen.“
b) Ich antworte, die Todsünde widerstreite so recht eigentlich der heiligen Liebe, kraft deren die Seele mit Gott verbunden lebt. Nun kann die Lüge im Gegensatze zur heiligen Liebe stehen: 1. an sich, in ihrem formalen Wesen betrachtet; 2. gemäß dem beabsichtigten Zwecke; 3. auf Grund von etwas von außen her Hinzutretendem, per accidens. 1. An sich betrachtet steht die Lüge im Gegensatze zur Liebe auf Grund der falschen Bezeichnung. Betrifft diese nun die göttlichen Dinge, so ist sie der Liebe Gottes entgegen, dessen Wahrheit jemand durch Lüge verdirbt oder verheimlicht. Solche Lüge also steht gegenüber nicht nur der Liebe, sondern auch dem Glauben und der Tugend der Religion; und ist deshalb im höchsten Grade schwer. Betrifft die falsche Bezeichnung etwas, dessen Kenntnis das Wohl des Menschen fördert, wie Alles das, was auf die Wissenschaft und die Regeln der Moral sich erstreckt; so ist eine solche Lüge, insoweit sie dem Nächsten den Nachteil einer falschen Meinung zufügt, der heiligen Liebe entgegen mit Rücksicht auf den Nächsten; und ist deshalb ebenfalls eine schwere Sünde. Beschäftigt sich aber eine solche falsche Meinung, die man durch Lügen im anderen erzeugt, mit etwas, wo es nicht darauf ankommt, ob es so oder anders erkannt werde, wie z. B. wenn jemand getäuscht wird mit Rücksicht auf einzelne besondere Umstände, die keine ausdrückliche Beziehung zu ihm haben, so leidet daraus der Nächste keinen Nachteil; und ist somit solche Lüge keine Todsünde. 2. Mit Rücksicht auf den gewollten Zweck ist jede Lüge eine Todsünde, welche Gott Unrecht thut, denn sie ist gegen die Tugend der Religion; ferner jede, welche den Nächsten im Besitze oder im guten Namen schwer benachteiligt. Ist der gewollte Zweck keine Todsünde, also nicht im Gegensatze zur Liebe, so ist die betreffende Lüge ebenfalls keine Todsünde; wie die Scherzlüge und Notlüge. 3. Nebenbei kann die Lüge im Gegensatze stehen zur heiligen Liebe auf Grund eines Ärgernisses oder eines daraus folgenden Nachteils. Und da wird die Lüge Todsünde sein in dem Falle, wenn jemand sich nicht scheut, trotz des sich ergebenden Ärgernisses öffentlich zu lügen.
c) I. Diese Stellen und ähnliche werden von der schädlichen Lüge verstanden. ll. Alle Gebote des Dekalogs richten sich auf die Liebe Gottes und des Nächsten. Also insoweit ist die Lüge gegen die zehn Gebote als sie gegen die Liebe ist. III. Auch die läßliche Sünde wird im weiteren Sinne „Gottlosigkeit“, Ungerechtigkeit“ genannt, nach 1. Joh. 3.: „Jede Sünde ist Gottlosigkeit.“ IV. Dem Wohlwollen der genannten Hebammen den Juden und ihrer Furcht Gottes gegenüber gebührte an sich der ewige Lohn; weshalb Hieronymus sagt zu Isai. 65. (Et aeadificabunt domos): „Gott erbaute ihnen im geistigen Sinne Häuser.“ Der äußere Akt der Lüge, der von diesem Wohlwollen ausging, verdiente nicht den ewigen Lohn; aber vielleicht wegen seiner Quelle eine gewisse zeitliche Vergeltung; denn solchem Verdienste widersprach nicht die Häßlichkeit der Sünde, wie sie dem Verdienste ewigen Lohnes widerstritt. Und so sind die Worte Gregors aufzufassen; nicht als ob sie mit dieser Lüge verdient hätten, den ewigen Lohn zu verlieren, welchen sie auf Grund des vorangehenden guten Willens verdient hatten. V. Manche sagen, für vollkommene Personen sei jede Lüge eine Todsünde. Aber das hat keinen Sinn. Denn kein Umstand beschwert die Sünde in endloser Weise, außer wenn er dieselbe in eine andere Sündengattung überträgt. Der Umstand der sündigen Person aber überträgt keine Sünde in eine andere Gattung, wenn nicht zur Person etwas hinzutritt wie z. B. das Gelübde; was hier bei der Scherz- oder Notlüge nicht gesagt werden kann. Höchstens könnte mit Rücksicht auf das Ärgernis eine solche Lüge in vollkommenen Personen Todsünde sein. Und darauf bezieht sich was Augustin — jedoch mit dem Ausdrucke des Zweifels, nicht als Behauptung — sagt: „Für vollkommene Personen sei es ein Gebot: nicht lügen und nicht lügen wollen.“ Dem steht nicht entgegen, daß solche Personen einen Stand haben, dem die Hochachtung der Wahrheit als Pflicht zukommt. Denn wenn sie gegen die Wahrheit sich verfehlen, welche sie kraft ihres Amtes als Richter oder Lehrer zu wahren haben, dann ist ihre Lüge Todsünde; in sonstigen Fällen brauchen ihre Lügen nicht immer gleich Todsünde zu sein.
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