Dritter Artikel. Jede Lüge ist Sünde.
a)Dies scheint nicht. Denn: I. Die Evangelisten haben sicher nicht gesündigt kn Niederschreiben Evangeliums. Häufig aber berichtet der eine die Worte des Herrn anders wie der andere. Also berichtet einer jedenfalls falsch. Und somit ist nicht jede Lüge Sünde. II. Die Hebammen Ägyptens wurden von Gott belohnt für ihre Lüge; „denn Gott erbaute ihnen Häuser.“ Für eine Sünde aber belohnt Gott nicht. III. Die Heiligen sind Beispiele für uns. Manche sehr heiligen Personen aber haben gelogen. So Abraham, der von seiner Frau sagte, sie sei seine Schwester (Genes. 12. und 20.); Jakob, der sich als Esau bezeichnete; Judith, die dem Holophernes log. IV. Das mindere Übel wird erlaubterweise vor dem größeren erwählt, wie der Arzt ein Glied abschneidet, damit nicht der ganze Körper verderbe. Ein minderer Schaden aber ist es, in jemandem eine falsche Meinung zü erzeugen als daß einer töte oder getötet werde. Also darf jemand lügen, damit ein anderer nicht totschlage oder totgeschlagen werde. V. Lüge ist es, wenn jemand nicht erfüllt was er versprochen. „In schlechten Versprechen aber soll man das Versprochene nicht erfüllen,“ sagt Isidor. Also ist die Lüge nicht immer Sünde. VI. Deshalb scheint die Lüge eine Sünde zu sein, weil durch sie der eine den anderen täuscht. Denn, sagt Augustin (l. c. ult.): „Wer da meint, es gebe eine Art Lüge, die nicht Sünde sei, täuscht sich in schändlicher Weise selber; da er meint, er könne anständiger-, ehrbarerweise andere täuschen.“ In den Scherzlügen aber z. B. täuscht man niemanden, da man dergleichen nicht deshalb sagt, damit sie geglaubt würden, sondern nur um der Heiterkeit willen. Zudem werden ja hyperbolische Redeweisen selbst in der Schrift gefunden. Also ist nicht jede Lüge Sünde. Auf der anderen Seite heißt es Ekkli. 7.: „Verabscheue alle Lüge.“
b) Ich antworte, was an und für sich schlecht ist, das werde in keiner Weise etwas Gutes und Erlaubtes. Denn damit etwas gut sei, muß Alles, was dazu gehört, in der rechten Weise da sein; da für das Gute die ganze Ursache wirken muß, für das Schlechte ein einziger beliebiger Mangel genügt. Die Lüge aber ist in ihrer „Art“ etwas Schlechtes; denn ihr Gegenstand ist etwas Ungebührliches. Da nämlich von Natur die Worte da sind, um Zeichen zu sein für das innere Verständnis; so ist es unnatürlich und ungebührlich, daß die Worte gebraucht werden, um zu bezeichnen das, was nicht im Verständnisse ist: „Die Lüge ist deshalb zu fliehen und zu verabscheuen,“ sagt Aristoteles (4 Ethic. 7.), „das Wahre aber ist etwas Gutes und Lobenswertes;“ und Augustin: „Jede Lüge ist Sünde.“
c) I. In der ganzen heiligen Schrift ist nichts Falsches behauptet; sonst ginge die Zuverlässigkeit des Glaubens zu Grunde, die ihre Grundlage und Stütze in der Schrift hat. Daß aber im Evangelium oder auch anderen Büchern der heiligen Schrift die Worte mancher Personen in verschiedener Weise berichtet werden, dies bildet keine Lüge. Demnach sagt Augustin (2. de cons. Evang. 12.): „Wer klug ist, urteilt, daß darin man gar nicht sich abmühen solle; denn wenn die Aussprüche selber notwendig sind, um die Wahrheit zu erkennen, so kommt es nicht darauf an, mit welchen Worten sie ausgedrückt seien.… Darin ist keine Lüge, daß, wenn mehrere einen Ausspruch angehört oder etwas gesehen haben, sie den nämlichen empfangenen Eindruck nicht mit den gleichen Worten wiedergeben.“ II. Für ihr Wohlwollen und ihre Furcht Gottes sind die Hebammen belohnt worden, nicht für ihre Lüge. Deshalb heißt es da Exod. 1.: ,3 weil sie Gott fürchteten, erbaute ihnen Gott Häuser.“ Die nachfolgende Lüge war nicht verdienstvoll. III. Die Thaten mancher Personen werden nach Augustin (de mendac. 5.) in der heiligen Schrift aufgeführt als Beispiele vollendeter Tugend; und von diesen Personen muß man nicht meinen, sie hätten gelogen. Erscheint in ihren Worten und Handlungen etwas der Lüge Ähnliches, so ist dies als Figur und Prophetie zu verstehen. Deshalb sagt Augustin: „Man muß glauben, daß jene Männer, welche in den prophetischen Zeiten als mit Autorität begabt erwähnt werden, Alles, was über sie geschrieben ist, in prophetischer Weise thaten und sprachen.“ Abraham (22. cont. Faust. 33. Aug.) wollte die Wahrheit verbergen und nicht, daß Sara eine Lüge sage; denn sie wird Schwester genannt, weil sie die Tochter des Vaters war,“ weshalb Abraham antwortet: „Sie ist wahrhaft meine Schwester, die Tochter meines Vaters und nicht die Tochter meiner Mutter.“ Jakob sagte im mystischen Sinne, er sei Esau; denn die Rechte der Erstgeburt gebührten ihm in der That. Es ist aber der Gebrauch, im Geiste der Prophetie so zu sprechen; damit das Mysterium bezeichnet werde, wonach dem älteren Volke, dem der Juden, zuvorkommen sollte in der Bekehrung zum Glauben das jüngere, das der Heiden. Andere aber werden in der Schrift nicht wegen ihrer vollendeten Tugend empfohlen, sondern wegen einer gewissen tugendhaften Anlage. Denn von einer gewissen lobenswerten Hinneigung in ihnen wurden sie bestimmt, Ungebührliches zu thun. Auf diese Weise wird Judith gelobt; nicht wegen der Lüge dem Holophernes gegenüber, sondern wegen ihres Eifers für die Rettung des Volkes, wofür sie sich Gefahren aussetzte. Ihre Worte können aber auch erklärt werden gemäß einem gewissen mystischen Verständnisse. IV. Die Regellosigkeit in der Lüge ist ebenso die Quelle der Sündenschuld wie der dem Nächsten zugefügte Nachteil. Solcher Regellosigkeit aber darf man sich nicht bedienen um eines Nutzens oder der Entfernung eines Hindernisses willen; wie man nicht stehlen darf, um Almosen zu geben, ausgenommen im Falle der Noth. Man darf also nicht lügen, um jemanden aus einer Gefahr zu befreien; wohl aber darf man klug die Wahrheit ver bergen. (Aug. I. o. 10.) V. Wer zur Zeit, da er etwas verspricht, den Willen hat, es zu thun, lügt nicht; — thut er es später nicht, so ist das mehr Mangel an Treue. Entschuldigt wird er durch zweierlei: 1. wenn er versprochen hat was offenbar unerlaubt ist; denn in diesem Falle hat er gesündigt, als er versprach; und er handelt gut, daß er es nicht thut; — 2. wenn die Personen oder die Umstände verändert sind. Denn, wie Seneca sagt (4. de benefic. 34.), damit der Mensch verpflichtet sei, was er versprochen zu halten, müssen alle Umstände die nämlichen bleiben, welche beim Versprechen maßgebend waren. Ist das nicht der Fall, so hat der versprechende nicht gelogen; denn er versprach, was er im Sinne hatte, selbstverständlich die gebührenden Bedingungen vorausgesetzt; — und er ist auch nicht untreu, weil derselbe Fall wie beim Versprechen nach den wesentlich veränderten Umständen nicht mehr vorliegt. Somit hat auch der Apostel (2. Kor. 1.) nicht gelogen, da er nicht nach Korinth ging, trotzdem er es versprochen hatte; denn die hinzugetretenen Hindernisse waren zu groß. VI. Der „Art“ des Thuns nach zu urteilen hat die Scherzlüge in sich den Charakter einer Täuschung; wenn auch die Absicht des sie sprechenden nicht dahin geht, zu täuschen, und die Weise sie vorzubringen keine Täuschung zuläßt. Das gilt aber nicht von den hyperbolischen oder anderen figürlichen Redeweisen, die in der Schrift sich finden. Denn „was in figürlicher Weise geschieht oder gesprochen wird, ist keine Lüge. Jede Aussage nämlich auf das zu beziehen, was sie aussagt; und demnach sagt jegliche figürliche Thatsache oder Redeweise das, was sie für jene bezeichnet, für deren Verständnis sie vorgebracht worden. (Aug. l. c. 5.)
