Dritter Artikel. Die Unmäßigkeit ist an sich betrachtet schlechthin eine größere Sünde wie die Furchtsamkeit.
a) Das Gegenteil scheint wahr. Denn: I. Die Furchtsamkeit steht zur Stärke im Gegensatze, welche eine höhere Tugend ist wie die Mäßigkeit. Aus dem Gegensatze zu den Tugenden aber folgt der Grad in der Schwere der Laster. Also ist die Unmäßigkeit eine geringere Sünde wie die Furchtsamkeit. II. Wer größeren Schwierigkeiten nachgiebt, wird weniger getadelt (7 Ethic. 7.) Eine größere Schwierigkeit ist es aber, die Ergötzungen zu überwinden wie die anderen Leidenschaften, so daß 2 Ethic. 3. Aristoteles sagt: „Schwieriger ist es, gegen das Vergnügen zu kämpfen wie gegen den Zorn.“ Also ist die Unmäßigkeit, welche sich vom Ergötzen besiegen läßt, eine mindere Sünde wie die Furchtsamkeit, welche der Furcht nachgiebt. III. Zum Wesen der Sünde gehört es, daß sie freiwillig sei. In höherem Grade freiwillig aber ist die Furchtsamkeit wie die Unmäßigkeit; denn niemand will unmäßig sein, manche aber wollen durchaus von freien Stücken die Todesgefahren fliehen, was der Furchtfamkeit angehört. Also. Auf der anderen Seite sagt Aristoteles (3 Ethic. 12.): „Die Unmäßigkeit hat mehr von Freiwilligem wie die Furchtsamkeit.“
b) Ich antworte, sowohl mit Rücksicht auf den Gegenstand wie mit Rücksicht auf den sündigenden Menschen sei die Unmäßigkeit eine schwerere Sünde wie die Furchtsamkeit: 1. Mit Rücksicht auf den Gegenstand. Denn die Furchtsamkeit flieht vor den Todesgefahren, zu deren Vermeidung im höchsten Grade führt das natürliche Bedürfnis, sein Leben zu behalten. Die Unmäßigkeit aber beschäftigt sich mit Ergötzungen, die nicht so sehr notwendig sind für die Erhaltung des Lebens; denn, wie oben gesagt, richtet sich die Unmäßigkeit vielmehr auf einzelne hinzugefügte Ergötzungen für den Geschmack, Geruch etc. als auf die eigentlich natürlichen Ergötzungen. Um so leichter aber scheint die Sünde zu sein, je notwendiger das einem vorkommt, was dazu antreibt. Und so ist die Unmäßigkeit eine schwerere Sünde wie die Furchtsamkeit. 2. Mit Rücksicht auf den Sünder. Denn:
a) Je mehr der Sünder seines Geistes Herr ist, desto schwerer sündigt er, so daß die unzurechnungsfähigen gar nicht sündigen; die Furcht aber nimmt dem Geiste die volle Besonnenheit, zumal die Todesfurcht, was bei der Unmäßigkeit nicht der Fall ist.
b) Die Unmäßigkeit hat mehr von Freiwilligem wie die Furcht, sowohl weil was aus Furcht geschieht seinen Grund hat in einem Anstoße von außen her und somit nicht schlechthin freiwillig ist, wogegen was aus Ergötzen geschieht, von freien Stücken gethan wird; — als auch weil das Unmäßige mehr freiwillig ist im besonderen Falle, weniger freiwillig im allgemeinen. Denn keiner will gerade unmäßig sein; er wird angelockt durch besondere einzelne Ergötzlichkeiten, so daß das beste Heilmittel dagegen ist, nicht sich zu lange Zeit mit dem Erwägen des besonderen Falles und seiner einzelnen Verhältnisse aufzuhalten, sondern zu allgemeineren Betrachtungen sich zu wenden. Bei der Furchtsamkeit aber ist es umgekehrt. Da ist das, was man im besonderen Falle thut, minder freiwillig; wie den Schild wegwerfen u. dgl.; — das Allgemeine, nämlich sich zu retten, ist mehr freiwillig. Freiwilliger aber geschieht dies, was mit Rücksicht auf die einzelnen Verhältnisse geschieht, unter welchen die Thätigkeit sich vollzieht, wie was nur mit Rücksicht auf allgemeine Principien gethan wird. Schlechthin also ist die Unmäßigkeit eine schwerere Sünde wie die Furchtsamkeit, weil sie schlechthin mehr freiwillig ist.
c) Gegen die Unmäßigkeit kann man sich mehr schützen wie gegen die Furchtsamkeit; denn die Ergötzungen an Speise und Trank treten das ganze Leben hindurch entgegen. Man kann sich also da mehr üben, um mäßig zu sein. Die Todesgefahren aber kommen selten vor; und gefahrvoller ist es, sich darin zu üben, um die Furchtsamkeit zu vermeiden. Der unmäßige also sündigt, schlechthin genommen, schwerer wie der furchtsame.
c) I. Von seiten des Zweckes her, also mit Rücksicht auf das Gute, kann die Furchtsamkeit in etwa der Unmäßigkeit vorangestellt werden. Denn die Stärke berücksichtigt das Gemeinbeste in höherem Grade wie die Mäßigkeit; und somit schädigt der furchtsame, insoweit er von der Verteidigung des Gemeinwesens abläßt, das Gemeinbeste. Von seiten der Schwierigkeiten aber her ist die Furchtsamkeit nicht schwerer wie die Unmäßigkeit, insoweit nämlich es schwieriger ist, in Todesgefahr auszuhalten, wie etlicher Ergötzlichkeiten zu entbehren. Denn wie es eine größere Kraft verrät, von etwas Stärkerem nicht besiegt zu werden; so ist es eine schwerere Sünde, etwas Schwächerem zu unterliegen, und eine geringere. Stärkerem nachzugeben. II. Die Liebe zum Leben, um derentwillen man die Todesgefahren vermeidet, ist bei weitem mehr in der Natur begründet, wie etwelche beliebige Ergötzungen, die ihren Zweck haben in der Erhaltung des Lebens. Schwerer also ist es, die Furcht vor Todesgefahren zu überwinden wie die Begierde nach Speise und Trank und nach Geschlechtlichem. Solcher Begierde zu widerstehen aber ist seinerseits wieder schwieriger wie den Zorn, die Trauer, die Furcht vor geringeren Übeln zu überwinden. III. In der Furchtsamkeit wird mehr Freiwilliges gefunden nach der allgemeinen Seite hin; weniger, soweit es die besonderen Verhältnisse anbetrifft. Also ist in ihr nicht schlechthin, sondern nur nach dieser Seite hin mehr Freiwilligkeit. In der Unmäßigkeit aber ist mehr Freiwilliges schlechthin.
