Vierter Artikel. Die Häßlichkeit der Sünde der Unmäßigkeit.
a) Die Unmäßigkeit scheint nicht gerade so sehr abscheulich zu sein. Denn: I. Wie der Tugend Ehre, so gebührt der Sünde Abscheu. Manche Sünden aber sind schwerer wie die Unmäßigkeit, wie der Mord, der Ehebruch etc. Also sind sie abscheulicher. II. Mehr verbreitete Sünden scheinen weniger abscheulich zu sein; denn man schämt sich deren nicht so sehr. Die Sünden der Unmäßigkeit aber sind sehr verbreitet; sie betreffen nämlich das, was für gewöhnlich in den Dienst der Menschen tritt. Also sind sie nicht so abscheulich. III. 7 Ethic. 4. sagt Aristoteles: „Die Mäßigkeit und Unmäßigkeit befassen sich mit den menschlichen Begierlichkeiten und Ergötzungen.“ Es giebt aber auch Ergötzlichkeiten, die man tierische oder Krankheiten nennt (I. c. c. 5.). Also ist die Unmäßigkeit nicht im höchsten Grade abscheulich. Auf der anderen Seite „scheint vor allen Lastern die Unmäßigkeit mit Recht abscheulich zu sein.“ (3 Ethic. 12.)
b) Ich antworte, das Verabscheuen stehe gegenüber der Ehre und dem Ruhme. Die Ehre aber gebührt einem hervorragenden Vorrange und der Ruhm schließt Herrlichkeit und Glanz in sich ein. Die Unmäßigkeit nun widerstreitet 1. am meisten dem Vorrange des Menschen; denn sie richtet sich auf Ergötzungen, die uns mit den Tieren gemein sind, weshalb es Ps. 48 heißt: „Da der Mensch in Ehren war, hat er es nicht verstanden; er hat sich mit den vernunftlosen Tieren auf die nämliche Stufe herabgelassen und ist ihnen ähnlich geworden.“ Es widerstreitet 2. die Unmaßigkeit am meisten dem Lichte oder der Schönheit; denn die ganze Herrlichkeit und Schönheit des Menschen kommt vom Lichte der Vernunft, diese aber erscheint am wenigsten in den Ergötzlichkeiten, welche Gegenstand der Unmäßigkeit sind.
c) I. Gregor der Große (33. moral. 11.) sagt: „Die fleischlichen Sünden (die alle in der Unmäßigkeit einbegriffen sind) schließen nicht so große Schuld in sich ein; sind aber schändlicher.“ Die Größe der Schuld nämlich wird vom Zwecke aus bemessen; die Schande aber kommt von der Schimpflichkeit oder dem Mangel an Vernunft. II. Die Gewohnheit zu sündigen vermindert die Schande vor den Menschen; nicht aber in Anbetracht der Natur selber der Laster. III. Die Unmäßigkeit ist am meisten abscheulich unter den menschlichen Lastern. Jene Laster, welche die Verhältnisse oder das Maß der menschlichen Natur übersteigen, sind abscheulicher. Diese aber selbst lassen sich zurückführen auf die Unmäßigkeit gemäß einem gewissen Übermaße; wie wenn jemand sein Wohlgefallen findet im Fressen von Menschenfleisch oder in unnatürlicher Unzucht mit Tieren und mit Personen gleichen Geschlechtes.
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