Erster Artikel. Die Abstinenz ist eine Tugend.
a) Dem widerspricht: I. Röm. 14.: „Das Reich Gottes ist nicht Speise und Trank;“ wozu die Glosse Augustins (2 Qq. Evgl. 11.) bemerkt: „Weder in der Abstinenz noch im Essen ist die Gerechtigkeit.“ II. 10. Conf. c. 31.: „Das hast du mich gelehrt, daß wie Medizin ich Nahrung nehmen soll.“ Die Medizin aber wird von einer Kunst bemessen, nicht von einer Tugend, III. 2 Ethic. 6.: „Die Tugend besteht in der rechten Mitte.“ Die Abstinenz aber besteht im Mangel. IV. 3. Pastoral. c. 20. Gregors des Großen: „Die Seele dessen, der die Abstinenz beobachtet, wird zumeist durch Ungeduld aus dem Hafen der Ruhe herausgeworfen;“ und wiederum: „Der Stolz durchbohrt manchmal eine solche Seele.“ Also ist die Abstinenz keine Tugend, sondern schließt die Tugenden der Demut und der Geduld aus. Auf der anderen Seite heißt es 2. Petr. 1.: „Lasset dienen in euerem Glauben die Tugend, in der Tugend die Wissenschaft, in der Wissenschaft die Abstinenz;“ wo also die Abstinenz neben anderen Tugenden aufgezählt wird.
b) Ich antworte: Insoweit Abstinenz besagt, schlechthin sich der Speise zu enthalten, ist sie keine Tugend, sondern etwas Gleichgültiges. Besagt sie dies aber mit Rücksicht auf die Regelung durch die Vernunft, so ist sie eine Tugend dem Zustande oder der Thätigkeit nach. Deshalb sagt Petrus, „in der Wissenschaft Abstinenz“; daß nämlich der Mensch sich der Speise enthalte gemäß dem daß die Vernunft unterscheidet, ob es der Gesundheit oder den Menschen, mit denen man zusammenlebt, oder überhaupt den persönlichen Verhältnissen entspreche.
c) I. 1. Kor. 8. heißt es: „Die Speise empfiehlt uns nicht Gott dem Herrn; wir werden nicht (geistig) stärker sein, wenn wir essen, und nicht schwächer, wenn wir nicht essen.“ Die Speise an sich also ist gleichgültig. Soweit aber Essen und Nichtessen geregelt wird durch die Liebe Gottes und des Nächsten, gehört es zum Reiche Gottes. II. Soweit die Gesundheit des Leibes in Betracht kommt, muß die Kunst des Arztes den Umfang und die Beschaffenheit der Speisen bemessen. Soweit aber die inneren Neigungen erwogen werden, geht dies die Tugend an: „Betreffs der Tugend liegt gar nichts daran, was für Nahrung oder wie viel deren der Mensch zu sich nimmt, wenn er nur dies thut mit Rücksicht auf die Menschen, mit denen er lebt, und gemäß der Notwendigkeit, die mit Rücksicht auf sein Amt von seiner Person und von seiner Gesundheit ausgeht. Aber die Tugend steht in Frage, wenn darauf gesehen wird, mit welcher Leichtigkeit, wie heiter und ruhig in der Seele er der Speise entbehrt, wenn es sich geziemt, derselben zu entbehren.“ (August. 2 Qq. Evgl. 11.) III. Die Mäßigkeit soll dem Übermaße der Leidenschaften den Zügel anlegen; die Stärke soll den Menschen festigen gegen die Befürchtungen, welche von dem der Vernunft entsprechenden Gute fernhalten wollen. Wie also das Lob der Stärke in einem gewissen Übermaße besteht und danach alle Teile der Stärke benannt werden, so besteht das Lob der Mäßigkeit in einem gewissen Mangel und danach werden alle Teile der Mäßigkeit benannt. Also kommt auch der Name der Abstinenz von einem Mangel; und doch besteht sie in der rechten Mitte, denn sie folgt dem Maße der rechten Vernunft. IV. Jene Laster kommen von der ungeregelten Abstinenz. Die gesunde Vernunft lehrt, sich zu enthalten, wie es sich gebührt; nämlich aus recht mäßigem Grunde, mit geistiger Heiterkeit, zur Ehre Gottes und nicht zur eigenen Ehre.
