Zweiter Artikel. Die Abstinenz ist eine besondere eigene Tugend.
a) Dementgegen wird gesagt: I. Jede Tugend ist an sich lobenswert. „Die Abstinenz aber wird lobenswert auf Grund anderer Tugenden;“ sagt Gregor in der pastor. 3, 20. Also ist sie keine eigene Tugend. II. Augustin schreibt (de fide ad Petr. 42.): „Die Heiligen enthalten sich von Speise und Trank; nicht weil eine Kreatur Gottes schlecht sei, sondern um ihren Leib zu züchtigen.“ Also ist die Abstinenz nichts Anderes wie Keuschheit. III. Wie mit der Kleidung, so soll der Mensch mit dem notwendigen Essen und Trinken zufrieden sein, nach l. Tim. ult. 8. Mit Rücksicht auf die Kleidung besteht aber keine eigene Tugend, also auch nicht mit Rücksicht auf Essen und Trinken. Auf der anderen Seite nennt Macrobius neben den anderen Tugenden die der Abstinenz.
b) Ich antworte, wo ein besonderer Gesichtspunkt gefunden wird, unter dem die Leidenschaft den Geist vom Gebote und von dem Gute der Vernunft entfernt; da müsse eine besondere Tugend sein. Das Ergötzen an den Speisen aber ist von Natur geeignet, den Menschen von der Stimme der Vernunft zu entfernen, sei es wegen seiner Größe sei es wegen des Bedürfnisses nach Speise. Also ist die Abstinenz eine eigene Tugend.
c) I. Eine Tugend unterstützt und empfiehlt die andere; wie ja die Klugheit und Gerechtigkeit für alle erforderlich ist. II. Nicht allein zum Schutze der Unzucht wird der Körper gezüchtigt, sondern auch zum Schutze gegen die Lockungen der Gaumenlust; denn je mehr der Mensch den Ergötzungen an Speise und Trank nachgiebt, desto stärker wird die letztere. Dabei hilft aber der Keuschheit die Abstinenz. III. Der Gebrauch der Kleider ist von der Kunst eingeführt, jener der Speise von der Natur; also wird mit mehr Recht eine eigene Tugend in letzterer Beziehung erfordert.
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