Zweiter Artikel. Die Beschaffenheit der dem prophetischen Geiste eingeprägten Ähnlichkeiten.
a) Gott prägt dem Geiste des Propheten ein keine neuen Erkenntnisbilder oder Ideen, sondern nur ein neues Erkenntnislicht. Denn: I. Zu Amos 1. bemerkt Hieronymus: „Die Propheten bedienen sich der Erkenntnisbilder jener Dinge, unter denen sie gelebt haben.“ Empfinge der Prophet aber neue Ideen, so würde die vorhergehende Gewohnheit nichts dabei zu thun haben. Also erhalten sie nur ein neues Licht. II. Augustin (12. sup. gen. ad litt. 9.) sagt: „Das Gesicht vermittelst der Einbildungskraft macht nicht den Propheten, sondern das geistig vernünftige Schauen.“ Deshalb heißt es Daniel 10.: „Des (geistigen) Verständnisses bedarf es beim Gesichte.“ Das geistig vernünftige Schauen aber vollendet sich nicht vermittelst einzelner Ähnlichkeiten, sondern kraft der Wahrheit selber der Dinge (l. c. c. 5.). Also nicht dadurch daß etwelche Ähnlichkeiten eingeprägt werden, vollendet sich die prophetische Kenntnis. III. Durch die Sehergabe verleiht der heilige Geist etwas dem Menschen, was über das menschliche Vermögen hinausgeht. Beliebige Bilder der Dinge aber kann sich der Mensch selber mit seinen natürlichen Kräften formen. Also. Auf der anderen Seite heißt es bei Oseas 12.: „Ich habe ihnen die Gesichte vervielfältigt und vermittelst der Propheten habe ich mich auf Grund von Ähnlichkeiten ihnen vorgestellt.“ Die Vervielfältigung der Gesichte aber geschieht nicht gemäß dem geistig vernunftgemäßen Lichte, das für alles prophetische Schauen das nämliche ist, sondern gemäß der Verschiedenheit der Erkenntnisbilder, wonach ja auch die Ähnlichkeit ausgesagt wird. Also werden bei den prophetischen Offenbarungen neue Erkenntnisbilder rücksichtlich der Dinge eingeprägt und nicht nur ein geistiges Licht.
b) Ich antworte, „die prophetische Kenntnis gehöre im höchsten Grade dem vernünftigen Geiste an.“ (Aug. 12. sup. Gen. ad litt. 9.) Mit Rücksicht auf die menschliche Kenntnis aber muß man beachten: 1. Die Art und Weise der Darstellung der Dinge und 2. das Urteil über die dargestellten Dinge. Wenn nun dem Menschengeiste gemäß der natürlichen Ordnung Erkenntnisbilder von Dingen vorgestellt werden sollen, so müssen sie zuerst vorgestellt werden dem Sinne, dann der Einbildungskraft und endlich der „möglichen“ (possibilis) also der thatsächlich erkennenden Vernunft, welche gemäß den Phantasiebildern bestimmt wird durch die „einwirkende“ (agens) Vernunft. Nun sind in der Phantasie nicht allein die Bilder der sinnlich wahrnehmbaren Dinge, soweit diese von den äußeren Sinnen her in Empfang genommen werden; sondern sie erleiden da teils auf Grund körperlicher Verhältnisse (wie bei den Narren und rasenden) eine Änderung, teils werden sie durch die Anordnung der Vernunft bezogen auf das vernünftig zu Erkennende. Denn wie aus der verschiedenen Ordnung unter den Buchstaben verschiedene Verständnisse hervorgehen, so entstehen aus der verschiedenen Zusammenstellung der Phantasiebilder durch die Vernunft verschiedene Ideen. Nun wird bei der Prophetengabe etwas dem Geiste über seine natürlichen Kräfte verliehen; und zwar mit Rücksicht auf das Urteil veimittelst des Einflusses des geistigen Lichtes, und auch mit Rücksicht auf die darstellenden Erkenntnisbilder. In letzterer Beziehung kann die prophetische Offenbarung verglichen werden mit dem menschlichen Unterrichte; nicht aber in ersterwähnter Beziehung. Denn der Lehrer stellt seinem Schüler einzelne Dinge vor vermittelst der Zeichen der Reden; nicht aber kann er innen erleuchten, wie Gott dies thut. Das Hauptsächliche nun ist das Erste; denn das Urteil vollendet die Kenntnis. Wem also von Gott einige Bilder vorgestellt werden (wie dem Pharao und dem Nabuchodonosor oder dem Balthasar), seien es Bilder in der Phantasie oder außenbefindliche körperliche, der ist noch kein Prophet; wenn sein Geist nicht erleuchtet wird, daß er angemessen urteile. Solche Erscheinungen sind etwas Unvollkommenes im Bereiche des Prophetischen. Deshalb nennen einige solche Erscheinungen Ekstasen oder Traumauslegen. Ein Prophet wird aber bereits derjenige sein, der nur das Urteil hat rücksichtlich solcher etwas darstellenden Phantasiebilder, mögen diese auch von anderen ihm berichtet werden, wie dies beim ägyptischen Joseph der Fall war, der den Traum des Pharao auslegte. „Im höchsten Grade freilich ist Prophet jener, der diese Darstellungen als Bilder in seiner Phantasie selbst sieht und der zugleich sie geistig zu verstehen vermag.“ (Aug. I. c.) Nun werden dem Geiste des Propheten bisweilen durch den äußeren Sinn sichtbare Formen vorgestellt, wie Daniel die schreibende Hand sah; — oder es sind dies Bilder in der Phantasie und zwar entweder von Gott eigens eingeprägt (wie wenn dem blindgeborenen in die Phantasie Bilder von Farben eingeprägt würden) oder von den äußeren Sinnen her empfangen, wie bei Jerem. 1.; — oder es sind durchaus geistige, direkt der Vernunft eingeprägte Ideen, wie Salomo und die Apostel die Gabe der Weisheit empfingen. Dagegen wird das geistige Licht manchmal von Gott her dem Geiste eingeflößt, um recht zu beurteilen, was andere gesehen haben, wie bei Joseph und bei den Aposteln; denen „der Herr den Sinn öffnete, daß sie die heiligen Schriften verständen“ (Luk. 24.), was zur Schristerklärung gehört; oder um zu beurteilen gemäß der göttlichen Wahrheit, was innerhalb des Natürlichen der Mensch selber erfaßt; oder auch um wirksam zu beurteilen, was man zu thun hat, nach Isai. 63.: „Der Geist des Herrn war sein Führer.“ So vollzieht sich also die prophetische Erleuchtung bisweilen durch den Einfluß des Lichtes allein; bisweilen durch Formen, die von neuem eingeprägt worden; und bisweilen durch solche, die nur in andere Ordnung gebracht worden.
c) 1. Bisweilen werden bereits bestehende Phantasiebilder von seiten Gottes nur zu etwas Anderem hinbezogen oder anders geordnet; und dann trägt die früher bestehende Lebensgewohnheit etwas zu diesen Bildern bei. II. Das geistig vernünftige Schauen vollzieht sich nicht durch körperliche oder Phantasiebilder, sondern gemäß einer rein geistigen Ähnlichkeit. (Aug. 9. de Trin. 7.) Diese rein geistige Ähnlichkeit aber ist entweder neu eingeprägt oder ein Ergebnis bestehender Phantasiebilder, welches mit Hilfe des prophetischen Lichtes gewonnen worden; insofern aus den nämlichen sinnlichen Formen heraus eine tiefere Wahrheit leuchtet gemäß dem höheren Lichte. III. Beliebige Phantasiebilder kann der Mensch sich zwar formen; nicht aber so, daß diese Bilder geeignet wären, geistige Wahrheiten vorzustellen, welche das menschliche Verständnis überragen. Um zu solchen Wahrheiten geeignet zu sein bedarf es übernatürlicher Erleuchtung.
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