Dritter Artikel. Das prophetische Schauen ist nicht immer verbunden mit der Abwesenheit sinnlicher Thätigkeit.
a) Das Gegenteil scheint wahr. Denn: I. Num. 12. heißt es: „Wenn ein Prophet unter euch ist, so werde ich ihm erscheinen in einem Gesichte und im Traumbilde werde ich zu ihm sprechen.“ „Solches Schauen aber in Gesichten und Traumbildern richtet sich auf das, was zu geschehen oder gesprochen zu werden scheint“ (Glosse zu Ps. 3). Wenn jedoch etwas scheint zu geschehen oder gesprochen zu werden, was nicht geschieht oder gesprochen wird, so ist dies ein Absehen von den äußeren Sinnen. Also sieht das prophetische Schauen immer ab von den äußeren Sinnen. II. Eine heftig angespannte Kraft hindert die anderen in ihrer Thätigkeit; wie wenn jemand sehr acht giebt um zu hören er nicht sieht, was vor ihm geschieht. In dem prophetischen Schauen aber ist die Vernunft im höchsten Grade angespannt. Also werden die Sinne in ihrer Thätigkeit gehemmt. III. Man kann nicht zugleich nach zwei einander entgegengesetzten Richtungen sich wenden. In der prophetischen Kenntnis aber wendet sich der Geist nach oben, um zu empfangen. Also kann er sich nicht zugleich nach unten wenden zu den sichtbaren Dingen. IV. Auf der anderen Seite sind nach 1. Kor. 14. „die Geister der Propheten unterthan den Propheten.“ Also ist der Prophet seiner völlig mächtig und im Gebrauche seiner Sinne.
b) Ich antworte, die prophetische Kenntnis vollziehe sich 1. vermittelst des Einfließens geistigen Lichtes; 2. vermittelst Einprägens geistiger Ähnlichkeiten oder Ideen; 3. vermittelst der Ordnung in den sinnlichen Phantasiebildern und ihrer Beziehung zu einer hohen geistigen Wahrheit; 4. vermittelst äußerlich wahrnehmbarer Formen. Offenbar nun besteht kein Loslösen von der Thätigkeit der äußeren Sinne im letzten Falle, wenn ein äußeres Bild zur Vorstellung der höheren Wahrheiten benützt wird; wie z. B. der brennende Dornbusch, die schreibende Hand; — mögen solche Bilder wie die eben genannten von Gott eigens hervorgebracht oder durch andere Ursachen geformt sein, wenn sie nur kraft der göttlichen Vorsehung etwas prophetisch bezeichnen, wie z. B. die Arche Noe ein Zeichen für die Kirche war. Auch im ersten und zweiten Falle ist kein Absehen von den äußeren Sinnen erfordert; denn ein vollkommenes Urteil und vollkommen geistige Ideen bestehen in uns zusammen mit der Zuwendung zu den Phantasiebildern und vermittelst dieser zum Sichtbaren, wo die ersten Principien unserer Erkenntnis sich finden. Nur im dritten Falle ist ein Zurückziehen von den äußeren Sinnen notwendig; damit wir nicht das, was wir in Phantasiebildern schauen, beziehen auf das, was außen sinnlich wahrnehmbar ist. Dieses Zurückziehen von den Sinnen und das Absehen von ihrer Thätigkeit aber geschieht manchmal in vollkommener Weise, so daß der Mensch nichts von der Außenwelt empfindet; und manchmal unvollkommener, so daß er wohl etwas wahrnimmt, aber nicht völlig zu unterscheiden vermag das, was er von außen her wahrnimmt, von dem, was er in der Einbildungskraft schaut. Deshalb sagt Augustin (12. sup. Gen. ad litt. 12.): …So erscheint das, was innerhalb des Geistes (im sinnlichen Teilc) geschieht, nämlich die Bilder von Körperlichem, wie wenn es wirklich Körper wären; so daß zugleich geschaut wird sowohl der Mensch, der wirklich gegenwärtig ist, als auch ein anderer, der nur im Geiste gegenwärtig ist, als ob er wirklich gegenwärtig wäre.“ Ein solches Entfernen von den Sinnen aber ist bei den Propheten nicht von einer Verwirrung und Unordnung in ihrer sinnlichen, Natur begleitet (wie bei den besessenen und ähnlichen), sondern es vollzieht sich kraft einer natürlichen geordneten Ursache; sei diese eine natürliche ähnlich wie der Schlaf, oder eine geistige wie die Betrachtung, was bei Petrus (Act. 10.) statthatte, oder eine unmittelbar mit göttlicher Kraft fortreißende wie bei Ezech. 1.: „Und es ward über ihm die Hand des Herrn.“
c) I. Jene Stelle spricht von den Propheten, denen Phantasiebilder von seiten Gottes eingeprägt wurden, entweder im Schlafe, was durch Traumbilder dann geschieht, oder in der Betrachtung durch Gesichte. II. Ist die geistige Aufmerkfamkeit gespannt auf Dinge gerichtet, die von den Sinnen fernliegen, so folgt das Entfernen von der sinnlichen Thätigkeit auf Grund der höchst gespannten Aufmerksamkeit. Richtet sich der Geist aber darauf, über das Sichtbare zu urteilen oder dasselbe zu lenken und zu leiten, so besteht kein Grund für eine Entfernung der sinnlichen Thätigkeit. III. Die Thätigkeit des prophetischen Geistes kommt nicht von der eigenen Kraft, sondern von der Gottes. Wird also der Geist des Propheten dazu hingeneigt, um zu urteilen über das Sichtbare und es zu lenken und zu ordnen, so geschieht da kein Entfernen von der Thätigkeit der äußeren Sinne; — sondern nur, wenn der Geist zur Betrachtung höherer, rein geistiger Wahrheiten sich erhebt. IV. Die Geister der Propheten sind den Propheten untergeben mit Rücksicht auf die Verkündigung der prophetisch erkannten Wahrheiten; davon spricht der Apostel. Denn sie sprechen mit vollständiger Besinnung; nicht mit verwirrtem Geiste wie die besessenen (was Priscilla und Montanus sagten). In der prophetischen Offenbarung selber ist der Prophet dem prophetischen Geiste vielmehr unterworfen.
