4.
Die ausschweifende Lust entspringt offenbar der Quelle des Weines, und den Ausschweifenden befällt zugleich die krankhafte Unzucht, welche zeigt, daß alle S. 322 Brunst des Viehes hinter der Geilheit der Trunkenen zurücksteht: Die Tiere kennen die Grenzen der Natur; die Betrunkenen aber suchen im Manne das Weib und im Weibe den Mann. Es fällt nicht gerade leicht, alle schändlichen Folgen der Betrunkenheit aufzuzählen. Das Unheil, das die Pest anrichtet, kommt im Laufe der Zeit über die Menschen, da die verdorbene Luft ihr Miasma nur allmählich den Körpern einsenkt; die verderblichen Folgen des Weines aber stellen sich sofort ein. Sind die Leidenschaftlichen nämlich seelisch so verwüstet, daß sie mit allen Makeln befleckt sind, dann ruinieren sie auch noch ihre körperliche Konstitution, indem sie nicht bloß vor übermäßiger Wollust, die sie zur Geilheit stachelt, hinschwinden und hinsiechen, sondern auch einen aufgedunsenen, mastigen und kraftlosen Körper herumschleppen. Ihre Augen sind glanzlos wie Blei, ihre Haut blaßgelb, der Atem stockend, die Zunge schwer, ihr Lallen unverständlich, die Füße unsicher wie bei Kindern; die natürlichen Entleerungen gehen von selbst ab wie bei Toten. Ihre Schwelgerei macht sie bedauernswert, bedauernswerter als die auf dem Meere vom Sturm Erfaßten, welche die einander stoßenden und überschlagenden Wogen nicht aus der Flut auftauchen lassen. So treiben auch ihre mit Wein getauften Seelen unter der Flut daher. Wie die überladenen, vom Sturm gepeitschten Schiffe durch Auswerfen des Balastes erleichtert werden müssen, so müssen auch die Trunkenen erbrechen, was sie beschwert. Kaum durch Erbrechen und Entleeren befreien sie sich von der Last.
Insofern sind sie bedauernswerter denn unglückliche Seefahrer, als letztere Winden, dem Meere und äußeren Gewalten die Schuld geben können, sie aber geflissentlich den Sturm des Rausches verschulden. Der Besessene ist bedauernswert; der Trunkene aber, obschon gleich elend daran, verdient kein Mitleid, weil er es mit einem freigewählten Dämon zu tun hat. Und diese Leute bereiten Trunkenheitsmittel, nicht um am Weine keinen Schaden zu nehmen, sondern um aus dem Rausche nicht herauszukommen. Denn der Tag ist ihnen zu wenig, zu kurz sogar die Mitternacht, was die Zeit des Trinkens angeht. Das Übel kennt kein Ende. Denn der S. 323 Wein selbst treibt immer weiter. Er stillt das Bedürfnis nicht, sondern verursacht nur das unabweisbare Bedürfnis nach weiterem Trinken, indem er die Betrunkenen ausbrennt und immer zum Nachgießen von noch mehr Wein reizt. Ein unersättliches Verlangen zu trinken wollen sie haben, machen aber eine andere Erfahrung, als die sie wünschen. Durch die fortgesetzte Schlemmerei stumpfen sie ihre Sinne ab. Wie zu greller Glanz das Gesicht schwächt, und wie die durch starkes Getöse Betäubten eben durch den übermäßigen Lärm schließlich soweit kommen, daß sie gar nichts mehr hören, so verderben auch diese sich durch allzu starken Genuß unvermerkt das Vergnügen. Selbst der ungemischte Wein kommt ihnen geschmacklos und wässerig vor. Nimmt man frischen Wein, so kommt er ihnen lack vor, und mag er noch so rezent sein, und wäre er kalt wie Schnee, so kann er doch die in ihrem Innern lodernde Flamme, die übermäßiger Weingenuß entfacht hat, nicht löschen. „Wer hat Wehe? Wer Unruhe? Wer Zank? Wer Unbehagen und Possen? Wer Wunden ohne Not? Wer trübe Augen? Nicht die, die beim Weine verbleiben und sich nach Trinkgelagen umsehen1?“ „Wehe“ ist ein Klageruf. Beklagenswert sind die Trunkenen, weil „Trunkenbolde das Reich Gottes nicht besitzen werden2.“ „Unruhe“ haben sie, weil der Wein in ihrem Denken Verwirrung anrichtet. „Unbehagen“ empfinden sie wegen des widrigen Aufstoßens, der Folge der Trinklust. Ihre Füße sind gefesselt, ihre Hände gefesselt durch Säfte, die von der Berauschung herkommen3. Ja, schon vor diesen Leiden, schon wenn sie trinken, befallen sie Leiden, wie sie bei Fieberkranken vorkommen. Denn wenn die Gehirnhäute vom aufsteigenden Weindunste angefüllt sind, dann wird der Kopf von unerträglichen S. 324 Schmerzen befallen, kann sich nicht über den Schultern aufrecht halten und fällt, auf den Wirbeln schwankend, hin und her. — „Possen“ nennt die Schrift das unnütze zänkische Geplauder bei den Trinkgelagen. „Wunden ohne Not“ bekommen die Säufer, wenn sie vor Trunkenheit nicht aufrecht stehen können. Denn sie stürzen und fallen bald so, bald anders und bekommen so selbstverständlich am Körper „Wunden ohne Not“.
Sprichw. 23, 29. 30. ↩
1 Kor. 6, 10. ↩
ἐκ τῶν ἐπιπεμπομένων παϱὰ τῆς μέϑης ῥευμάτων [ek tōn epipempomenōn para tēs methēs rheumatōn]. Eine doppelte Deutung ist möglich, entweder die Glieder sind im Zustande der Berauschung gefesselt = gelähmt, oder: die Glieder sind gefesselt durch rheumatische Schmerzen als Folgeerscheinung der Trunksucht. ↩
