4.
Sodann hat der, welcher sagte, die Wasser sollen sich in einem Sammelort sammeln, dir zu verstehen gegeben, daß viele Wasser an vielen Orten verteilt waren. So hatten die Höhlen der Berge, von tiefen Klüften durchbrochen, ihre Wasseransammlungen. Außerdem wurden auch viele schrägliegende Ebenen, so groß wie die größten Meere, und abertausend Täler und auf diese oder jene Weise ausgehöhlte Schluchten, die alle damals mit Wasser gefüllt waren, auf den Befehl Gotles hin geleert, indem das Wasser von allen Seiten her an einen Sammelort geleitet wurde. Sage doch niemand, daß, wenn ja Wasser über der Erde war, jedenfalls alle Tiefen, die jetzt das Meer aufnahmen, mit Wasser angefüllt gewesen seien, und wo hätten wir uns denn die Wasseransammlungen zu denken, wenn die Tiefen schon angefüllt waren? Darauf antworten wir, daß in dem Augenblicke, da das Wasser in einen Sammelort sich S. 65 absondern mußte, auch die Wasserbehälter hergerichtet waren. Denn das Meer außerhalb Gades1 existierte noch nicht; auch jenes große, von den Seeleuten gefürchtete Meer, das die britische Insel und Westspanien umflutet, gab es noch nicht; vielmehr erst, nachdem auf Gottes Befehl der weite Raum geschaffen war, ergossen sich in ihn die Wassermassen.
Auf den Einwand aber, als widerspreche unsere Ansicht von der Weltschöpfung der Erfahrung - denn nicht alles Wasser scheint an einem Sammelort zusammengelaufen zu sein -, könnten wir Vieles und Allbekanntes erwidern, wenn es nicht etwa lächerlich wäre, mit solchen Leuten sich in einen Streit einzulassen. Sie wollen doch hoffentlich uns nicht die Moräste und Regenpfützen vorführen und damit unsere Ansicht widerlegt glauben! Hat doch auch Moses nur den größten und vollständigsten Zusammenlauf der Wasser „eine Sammlung” genannt. Auch die Brunnen sind handgefertigte Sammelplätze des Wassers, in welche die in der Erde versprengte Feuchtigkeit zusammenfließt. Die Bezeichnung „Sammelort” bedeutet also nicht die nächsten besten Ansammlungen der Wasser, sondern die vornehmlichste und größte, in der das ganze Element beisammen erscheint. Denn wie das Feuer zu unserm Gebrauch wohl in kleine Teile zerlegt, im Äther aber in Masse ausgegossen ist, und wie auch die Luft wohl in kleinen Mengen gesondert ist, aber den Raum um die Erde in Masse einnimmt, so gibt es auch beim Wasser trotz einiger kleiner, abgesonderter Ansammlungen nur einen Sammelort, der das ganze Element von den übrigen Sammlungen scheidet. Denn die Seen, sowohl die nördlichen wie die, welche in Griechenland, Makedonien, Bithynien und Palästina liegen, sind offenbar auch Wasseransammlungen; aber hier ist von der allergrößten, die an Größe der Erde gleichkommt, die Rede. Niemand wird leugnen, daß jene Seen eine Menge Wasser fassen; aber Meer im eigentlichen Sinne wird sie doch wohl niemand nennen wollen, obschon einige ebenso salz- und erdhaltig sind wie das große Meer, so S. 66 z. B. der Asphaltsee in Judää2 und der Serbonitissee, der zwischen Ägypten und Palästina der Wüste Arabiens vorlagert3. Seen sind das; dagegen gibt es nur ein Meer, wie die erzählen, welche die Welt bereist haben. Wohl wähnen einige, das Hyrkanische4 und Kaspische Meer hätten ihre eigenen Grenzen; aber wenn man den Geographen glauben darf, so sind sie doch miteinander durch einen unterirdischen Kanal verbunden und münden beide zusammen in das große Meer, wie sich auch das Rote Meer mit dem jenseits des Gades vereinigen soll5. Warum hat nun Gott, fragen sie, die Wasseransammlungen Meere genannt? Weil zwar die Gewässer an einem Sammelort zusammengeflossen sind, der Herr aber die Wasserbehälter, d.h. die Busen, die von der sie umgebenden Erde in ihrer eigenen Form belassen sind, Meere genannt hat. So ist ein anderes das nördliche, ein anderes das südliche, ein anderes das östliche und wieder ein anderes das westliche Meer. Auch haben die Meere eigene Namen: so sind der Pontus Euxeinos, die Propontis, der Hellespont, das Ägäische und Jonische, das Sardo(i)nische, Sizilische und Tyrrhenische Meer verschiedene Meere. Zahllos sind die Namen der Meere; sie alle der Reihe nach hier anzuführen, wäre ebenso langweilig wie geschmacklos. Deshalb also hat Gott die Wasseransammlungen Meere genannt. Dahin hat uns der Gang der Rede geführt; wir wollen aber wieder auf unseren Ausgangspunkt zurückkommen.
