5.
„Und Gott sprach: Das Wasser sammle sich an einem Sammelort, und es erscheine das Trockene1.” Er sagte nicht: „Und es erscheine die Erde”, damit es nicht den Anschein gewinnt, als wäre sie noch ungestaltet, schlammig, mit Wasser vermengt gewesen, und als hätte sie ihre eigentümliche Gestalt und Kraft noch nicht S. 67 gewonnen. Zugleich aber schuf der Schöpfer, damit wir nicht der Sonne die Austrocknung der Erde zuschrieben, die Trockenheit der Erde vor der Entstehung der Sonne. Gib aber wohl auf den Sinn der Schrift acht, wornach nicht bloß das überflüssige Wasser von der Erde abfloß, sondern auch alles, was in der Tiefe mit ihr vermischt war, dem unerbittlichen Gebot des Herrn gehorsam, sich verzog. „Und so geschah es.” Hinlänglich zeigt dieser Zusatz, daß das Wort des Schöpfers sich verwirklichte.
In vielen Abschriften der Bibel ist noch beigefügt: „Und das Wasser unter dem Himmel sammelte sich an seine Sammelorte, und es kam zum Vorschein das Trockene2,” Diese Worte hat kein anderer Übersetzer überliefert, noch scheint der hebräische Text sie zu haben. Und in der Tat ist nach der Konstatierung: „Und es ward so”, die Wiederholung derselben Sache überflüssig. Die verlässigeren Abschriften haben deshalb an dieser Stelle einen Obelos, das Zeichen der Unechtheit3.
„Und Gott nannte das Trockene Erde; die Sammelbecken der Wasser aber nannte er Meere.” Warum ward denn schon früher gesagt: „Es sollen sich sammeln die Wasser an einem Sammelort, und es komme zum Vorschein das Trockene”? Warum heißt es denn nicht: „Und es erscheine die Erde”? Und warum steht hier wiederum: „Es komme zum Vorschein das Trockene, und Gott nannte das Trockene Erde”? Antwort: Weil das Trockene die eigentümliche Eigenschaft, gleichsam das Charakteristische der Erdsubstanz ist; „Erde” aber ist bloße Sachbenennung. Wie das Wort „vernünftig” eine Eigenschaft des Menschen ausdrückt, das Wort „Mensch” aber das Lebewesen bezeichnet, dem diese Eigenschaft zukommt, so ist auch die Trockenheit eine S. 68 besondere und vorzügliche Eigenschaft der Erde. Das also, dem die Trockenheit eigentlich zukommt, wird Erde genannt, wie das Wesen, dem das Wiehern eigen ist, Pferd genannt wird. Das ist aber nicht bloß bei der Erde der Fall, sondern auch jedes andere Element hat seine besondere, ihm zugeteilte Eigenschaft, durch die es sich von den andern unterscheidet und sich in seiner Eigenart kenntlich macht. So hat das Wasser als seine besondere Eigenschaft die Kälte, die Luft die Feuchtigkeit, das Feuer die Wärme. So betrachtet gelten diese Elemente als die primären (= Ur-)Elemente der zusammengesetzten Körper; sind sie aber schon in einem Körper dargestellt und fallen sie in die Sinne, so kommen jene Eigenschaften nur noch vermischt vor. Überhaupt existiert nichts Sichtbares und Sinnfälliges ganz für sich allein, einfach und rein; vielmehr ist die Erde trocken und kalt, das Wasser feucht und kalt, die Luft warm und feucht, das Feuer warm und trocken. So ist mit der Verbindung der Eigenschaften die Möglichkeit gegenseitiger Vermischung gegeben. Ein jedes Element vermischt sich vermittels der gemeinsamen Eigenschaft mit dem nächst verwandten, und auf dem Wege der Gemeinschaft, in der ein Element mit dem jeweils nächsten steht, verbindet es sich (schließlich) mit dem entgegengesetzten. So z. B. verbindet sich die trockene und kalte Erde mit dem Wasser, wegen der Kältequalität ihm verwandt, und vereinigt sich durch das Wasser mit der Luft, weil das Wasser, mitten zwischen beide gestellt, gleichsam wie mit zwei Händen mit seinen beiden Eigenschaften die benachbarten Elemente erfaßt, nämlich die Erde mittels der Kalte, die Luft mittels der Feuchtigkeit. Die Luft sodann vermittelt die Versöhnung zwischen den feindlichen Naturen des Wassers und Feuers, indem sie mit dem Wasser durch die Feuchtigkeit, mit dem Feuer durch die Wärme sich verbindet. Das Feuer aber, von Natur warm und trocken, verbindet sich mit der Luft, kehrt aber durch seine Trockenheit wieder zur Gemeinschaft mit der Erde zurück. Und so entsteht ein harmonischer Reigen und Chor, weil alle Elemente zusammenstimmen und sich zusammenreihen (συστοιχούντων); deshalb ist eigentlich für sie die Bezeichnung S. 69 „Reihen” (στοιχεὶα = Reigen, Reihen, Elemente4) gut angepaßt. Das habe ich gesagt, um zu erklären, weshalb Gott das Trockene Erde genannt hat, nicht aber die Erde das Trockene genannt hat. Denn das Trockene ist nicht etwas erst später der Erde Hinzugekommenes, sondern gehörte von Anfang an zu ihrem Wesen. Denn das, was ihr die Existenzbedingungen schafft, ist von Natur früher und vorzüglicher als das, was hernach hinzukommt. Daher wurden natürlich auch die Merkmale für die Erde aus deren früheren und älteren Eigenschaften hergenommen.
Gen 1,10 ↩
Gen 1,9 nach LXX und der Itala. Dagegen fehlen diese Worte in der Vulgata, in den Übersetzungen des Aquila, Symmachus und Theodotion. Ambrosius (in seinem Hexaemeron III. 5.20) beurteilt diesen Zusatz als treffende Beifügung der LXX. ↩
Bei den Grammatikern war der Obelos (-+) das kritische Zeichen bei einem Verse oder einer Stelle, um diese als unecht oder verdächtig zu markieren. ↩
στοιχεὶον von στοιχέω (στιχάομαι) = in Reih’ und Glied zusammengehen. ↩
