§ 11.
1) Der Verfasser macht sich anheischig, die Großtaten Gottes am Menschengeschlecht, welche uns in der eucharistischen Feier in Wort und Tat vor Augen geführt werden, zu beschreiben. 2) Die großen Phasen bei dem Erlösungswerke sind folgende: freiwilliges Verscherzen der göttlichen Gnaden durch die Sünde im Paradiese — Vertauschen des Ewigen mit dem Vergäng- S. 138 lichen unter der Übermacht der entfesselten Leidenschaften — leiblicher Tod — der die Empörung im eigenen Innern noch steigernde Einfluß der bösen Geister — allmählich vollständige Entfremdung von Gott und traurige Knechtschaft des Satans — Eintritt der unendlichen Gottesgüte in die am Rande des Verderbens stehende Menschheit — Vereinigung der niedrigen menschlichen Natur mit der göttlichen, ohne daß diese irgend eine Vermischung erleidet — Christus bricht die Macht des Satans und schafft alle Gebrechen unseres Wesens in ihr Gegenteil um — er ist uns Weg und Vorbild zu unserem Heile.
Welches nun die Großtaten Gottes an uns sind, die wir meinen, soll im folgenden, soweit es unsere Kraft erlaubt, dargestellt werden. Denn sie alle zu feiern, geschweige sie klar zu verstehen und anderen zu erklären bin ich nicht im Stande. Jedoch die Geheimnisse, welche von den gotterfüllten Hierarchen im Anschluß an die heiligen Schriften gepriesen und liturgisch vollzogen werden, wollen wir, soweit es uns möglich ist, besprechen, nachdem wir zuerst gebetet haben, daß das Geisteswehen der Hierarchie uns erfülle.
Als die Menschennatur im Anfange aus den göttlichen Gütern in törichtem Unverstande herabgestürzt war, wartete ihrer ein von zahllosen Leidenschaften bestürmtes Leben und als Ende der verderbliche Tod. Denn in naturgemäßer Folge überlieferte der verhängnisvolle Abfall von der wesentlichen Güte und die Übertretung des göttlichen Gebotes im Paradiese den Menschen, der im wilden Wahnsinne sich dem zum Leben führenden Joche entzogen hatte, den eigenen (übermächtigen) Trieben und den bestrickenden, übelwollenden Blendwerken der feindlichen Mächte, die das gerade Gegenteil zu den göttlichen Gütern bilden. So kam es denn, daß er für das ewige Leben jammervoll den Tod eintauschte. Da die menschliche Natur ihren Ursprung Zeugungen verdankt, welche dem Reiche des Verweslichen angehören, so führte sie naturgemäß zu dem Ende hin, das dem Anfang entspricht (d. i. wieder zum Verweslichen). Nachdem sie aber mit freier Selbstbestim- S. 139 mung von dem göttlichen und nach oben führenden Leben abgefallen war, so ward sie bis an die äußerste entgegengesetzte Grenze hingerissen, in das unstete Spiel eines Heeres von Leidenschaften. Da sie in die Irre ging und von dem geraden Wege, der zum wahrhaften und wirklichen Gotte führt, abgekommen und unter die Herrschaft der schlimmen, bösen Scharen (der Dämonen) geraten war, merkte sie es nicht, daß sie nicht Göttern und Freunden sondern Feinden diente. Schonungslos behandelten sie diese Feinde, wie es deren Grausamkeit mit sich brachte, und so war sie kläglich der Gefahr der Vernichtung und des Verderbens anheimgefallen.
Aber die ganz unbegrenzte Menschenfreundlichkeit der urgöttlichen Güte verleugnete auch jetzt nicht wohlwollend ihre wirksame Fürsorge, sondern trat mit allen unsern Schwächen, die Sünde allein ausgenommen, in wahre Gemeinschaft, ward eins mit unserer Niedrigkeit, wobei sie die Beschaffenheit ihrer eigenen (göttlichen) Natur durchaus unvermischt und ungetrübt bewahrte, und schenkte uns so für die Zukunft als Gliedern desselben Geschlechtes die Gemeinschaft mit sich und machte uns ihrer eigenen Güter teilhaftig. Die Macht der abgefallenen Masse (der Dämonen) wider uns brach sie, nicht auf dem Wege der Gewalt, obwohl sie allerdings übergewaltig ist, sondern nach einem geheimnisvoll überlieferten Worte im Gerichte und in der Gerechtigkeit1. Unseren eigenen Zustand veränderte sie wohltätig ganz in das Gegenteil. Die Finsternis unseres Geistes erfüllte sie mit seligem, göttlichem Lichte und schmückte das Formlose mit gottähnlicher Zier. Das Haus unserer Seele reinigte sie mit vollständiger Heilung unserer nahezu gefallenen Natur von den S. 140 sündhaftesten Leidenschaften und verderblichen Makeln, indem sie uns einen überweltlichen Aufstieg und einen Lebenswandel in Gott vor Augen stellte, der in einer möglichst treuen Verähnlichung unseres Wesens mit ihr besteht.
Joh. 16, 8. Greg. v. Nyssa or. catech. n. 22 (M. 45, 60 C) bezieht sich ebenfalls auf diese Stelle und kommentiert sie in einer Weise, daß man mit Recht bei D. auf eine Anleihe von jenem schließen darf. Er hebt nämlich auch hervor, daß der Erlöser nicht von seiner Übermacht (τὸ περιὸν τῆς δυνάμεως) gegen den Feind des Menschengeschlechtes Gehrauch machen wollte, sondern durch einen Loskauf mit seinem Blute uns befreite. Vgl. Diekamp, Gotteslehre d. heil. Gregor v. Nyssa S. 40, wo auf Origenes zurückverwiesen wird. ↩
