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Geliebteste! Das ruhmreiche Leiden des Herrn, über das wir unserem Versprechen gemäß auch heute predigen wollen, erregt unsere größte Bewunderung wegen des in ihm zutage tretenden Geheimnisses der Demut. Sie ist es, die uns allen die Erlösung brachte und es uns ans Herz legte, in diesem Kaufpreis1 das Vorbild eines gerechten Wandels zu sehen. Freilich hätte die Allmacht des Sohnes Gottes, die er seiner Wesensgleichheit zufolge mit dem Vater teilt, schon durch ein gebieterisches Wollen das Menschengeschlecht der Herrschaft des Satans entreißen können, allein es entsprach so recht der Handlungsweise Gottes, daß der böse und tückische Fein durch das besiegt würde, was er besiegt hatte. Durch sich selbst sollte die Natur, durch die alle zu Knechten2 geworden waren, ihre Freiheit wieder erringen! Wenn es nun beim Evangelisten heißt: "Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt"3 und der Apostel sagt, daß "Gott in Christus die Welt mit sich versöhnt hat"4 , so ersehen wir daraus, daß der Eingeborene des himmlischen Vaters in der Weise die hinfällige Natur des Menschen zur seinigen S. 330machte, daß er trotz der Annahme der Substanz unseres Leibes und unserer Seele, der eine und gleiche Sohn Gottes blieb, da er damit nicht sich, sondern uns etwas zulegte. Brauchte doch nur die Schwachheit Hilfe, nicht aber die Kraft. So kam es, daß nach der Vereinigung des Schöpfers mit seinem Geschöpfe der "angenommenen Natur" nichts fehlte, was zum Wesen Gottes gehört, und der "annehmenden nichts von dem, was den Menschen ausmacht.
