6.
Es steht also fest, daß das Wesen des Christentums mehr in der Liebe als in der Hoffnung und dem Glauben begründet liegt. Ein Beispiel bezeugt das ganz klar. Judas Iskariot, der Verräter des Herrn, verlor Hoffnung und Glaube, weil die Liebe nicht in ihm blieb. So gibt es auch da und dort Veranlassung zu Häresien und Schismen, wenn Glaube und Hoffnung aufgeblasen sich losreißen von dem Grund der Liebe. Was aber nicht nur diese beiden, sondern auch alle anderen Tugenden ohne die Liebe sind, mögt ihr erkennen aus dem Hinweis des Paulus: „Und wenn ich vollen Glauben hätte, so daß ich Berge versetzen könnte, hätte aber die Liebe nicht, so bin ich nichts. Und wenn ich meine ganze Habe zur Speisung der Armen verteilte, und wenn ich meinen Leib hingäbe, damit ich verbrannt werde, hätte aber die Liebe nicht, so habe ich keinen Nutzen davon." Denn die Liebe, Brüder, liebt alles, „glaubt alles, hofft alles, duldet alles. Die Liebe höret niemals auf zu bestehen.“1 Nicht mit Unrecht legt deshalb Gott der Herr die Liebe des Nächsten nahe; S. 75 er setzt voraus, daß sie allein halten kann, was er gebietet.
1 Kor. 13,2-3; 7; 8. ↩
