8.
Aber es ergibt sich die Notwendigkeit, daß jeder die Eigenart der echten Liebe kennt, damit nicht unter dem Klang ihres Namens die Regel der Wahrheit bloßgestellt wird. Es gibt nämlich auch eine andere Liebe, die unserem Heil völlig entgegensteht. Man stellt sie ganz passend in der Gestalt eines Menschen dar;1 denn sie erweist sich als der Zeit und der Vergänglichkeit unterworfen. Sie wird in der Malerei in der Gestalt eines Knaben abgebildet, weil ihre verführerische Schlüpfrigkeit auch in den Jahren des Greisenalters nicht zur Beherrschung kommt. Sie erscheint nackt, weil ihr Wollen Schamlosigkeit ist. Sie erscheint mit Flügeln versehen, weil sie schnellstens auf alles sich stürzt, was sie in ihrer Lust erfaßt. Sie erscheint mit Pfeilen und Fackeln, weil ihre S. 77 Waffe2 immer mit unerlaubten, glühenden Begierden gespickt ist. Sie erscheint blind, weil sie, einmal entflammt, nicht auf Alter, nicht auf Geschlecht, nicht auf Gestalt, nicht auf Stand, nicht einmal auf das hochheilige Gefühl der Verwandtenliebe Rücksicht nimmt. Sie war es, die mit ihren Fackeln das Herz der Eva in Flammen setzte. Sie war es, die mit ihren Pfeilen Adam tötete. Sie war es, die den Versuch machte, Susanna entweder der unheilvollen glühenden Leidenschaft der beiden Ältesten gefügig zu machen oder sie der Enthauptung durch das Schwert des Gatten auszuliefern. Sie war es, die Joseph reizte, der Frau Gewalt anzutun;3 sie fand ihn freilich, auch als sie ihn des Mantels beraubte, nicht zur Unzucht bereit. Sie war es, die die Synagoge zu Fall brachte, als sie ihr die Waffen lieh.4 Sie ist es, die überall Unruhen stiftet, überall ihr wahnsinniges Wesen treibt. Sie verspricht und hält es nicht; sie gibt und nimmt wieder; sie ist bald traurig, bald fröhlich, bald demütig, bald stolz, bald trunken, bald nüchtern, bald Anklägerin, bald Beklagte. Sie scherzt, sie spielt, sie wird blaß, sie magert ab, sie seufzt, sie ereifert sich, sie gibt nach. Sie greift an oder sie berückt, und es ist schlimmer, wenn sie schmeichelt, als wenn sie rast. Eine Gelegenheit, Schaden zuzufügen, läßt sie auf keinen Fall vorübergehen. Wollt ihr wissen, was für ein Übel sie bedeutet? Sie haßt sich selbst in ihrer eigenen Frucht. Täglich schäumt die ganze Welt auf von S. 78 dem von ihr verspritzten Gift. Durch ihre unheilvollen Genüsse ist alles so in Verderbnis geraten, daß sie mit Recht den Weisen als verfluchenswert erscheint. Und durch das Wort der Heiligen Schrift wird geboten, daß all das, was in ihrem Bereich sich abspielt, nicht Gegenstand unserer Liebe sein darf; denn Johannes spricht: „Liebet nicht die Welt und nicht das, was in der Welt ist! Wenn einer die Welt liebt, so ist die Liebe des Vaters nicht in ihm. Denn alles, was in der Welt ist, ist Begierlichkeit des Fleisches und Begierlichkeit der Augen und Hoffart der Welt, die nicht von dem Vater, sondern von der Begierlichkeit der Welt stammt."5 Und weil durch sie der Teufel auf die verschiedenste Weise das Herz der Menschen packt (capit) und betrügt (deeipit), so wurde sie allmählich von ihren der Lust ergebenen Verehrern Cupido genannt.
Zeno schwebt für das Folgende eine der bekannten Darstellungen des Gottes Eros, Amor, Cupido vor. ↩
Der Ausdruck gladius ist hier wohl in diesem weiteren Sinn zu nehmen. Gemeint ist wohl der Bogen. ↩
Nach der Lesart der Ballerini: Hie Joseph mulieri flagitat esse violentum. Die von Giuliari vorgeschlagene: Hie Joseph mulierem flagitat esse violentam ist handschriftlich nicht begründet und fügt sich auch schwerer in den konstruktiven Zusammenhang des folgenden Relativsatzes; quem, etiam tum denudat, esse non invenit impudicum. ↩
Nach den früheren Herausgebern, denen auch Giuliari beistimmt, liegt hier eine Bezugnahme auf den Num. 25, 6—18 berichteten Vorfall vor. Die Konjektur Giuliaris: cum sua Cozbi (statt Uli) arma concedit scheint handschriftlich nicht genügend begründet. ↩
1 Joh. 2,15. 16. ↩
