7.
Erste Pflicht der Liebe ist es nun, es dankbar auf Gott zurückzuführen, daß wir geboren sind; es anzuerkennen, daß wir ihm allein es danken, daß wir am Leben sind; schlechthin nichts mehr im Innersten unseres Herzens zu belassen, was wir auf Grund eines anderen Rechts als des seinigen bestehen lassen möchten. Erst dann, Brüder, wenn Gott auf unsere aus solcher Ehrfurcht heraus ergangene Einladung in uns Wohnung zu nehmen beginnt, oder wir in ihm (Johannes sagt ja: „Gott ist die Liebe; wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm")1 — erst dann, Brüder, erwidern wir die Liebe, die er uns erzeigt, in gebührender Weise, weil durch einen Tausch das, was sein ist, auf uns übergeht. Als zweite Pflicht ergibt sich die, daß wir auch den Nächsten in demselben Grade lieben wie uns selbst. Um so mehr, da solches auch die Rechte der gegenseitigen Verwandtschaft fordern. Denn der Prophet sagt: „Ein Gott hat euch geschaffen. Ist er nicht der Vater von euch allen?"2 Wer also noch das Bewußtsein seiner hohen Abkunft in sich trägt, liebt seinen Bruder; und er erwartet nicht erst eine Mahnung von Seiten des Gesetzes, daß diese Liebe nicht irgendwie verletzt werden darf; ja er liebt sich in dem Bruder so sehr, daß er sich ohne ihn haßt. Es kommt noch etwas Besonderes hinzu: Gott hat den Menschen nach seinem Bild und Gleichnis geschaffen,3 damit wir in der Betrachtung des Abbildes Ehrfurcht vor dem wahren Urbild empfinden. Und das geht so weit, daß alles, was wir an Gutem oder Bösem irgendeinem Menschen tun, als Gott selbst getan gilt.4 Nicht mit Unrecht sagt Johannes, der ganz besonders die Geheimnisse des Herrn zu deuten weiß: „Wenn einer sagt, ich liebe Gott, und hasset seinen Bruder, so ist er ein Lügner. Denn wie kann derjenige, der seinen Bruder nicht liebt, den er doch S. 76 sieht, Gott lieben, den er nicht sieht?"5 Kämpfen wir deshalb, Brüder, miteinander in edlem Wettstreit gegenseitiger Liebe! Bringen wir in der würdigen Verehrung des Abbildes Gottes zum Ausdruck, was wir dem Urbild selbst schulden. Wir wissen ja, daß derjenige, der das Abbild verletzt, damit das Urbild selbst trifft und dadurch seine Seele ins Verderben stürzt. Ein Beweis für das Gesagte liegt nahe. Wird nicht jemand, der das Bild eines berühmten Königs (der aber doch immerhin nur ein Mensch ist) aus irgendeinem Grunde verletzt, sofort wegen des Verbrechens des Sakrilegs6 mit dem Tode bestraft? Um wieviel mehr ist stärkste Vorsicht in der Sache Gottes geboten, Gottes, vor dem allein die Kräfte der Natur sich beugen, die sogar für den König Gegenstand der Furcht sind!
1 Joh. 4,16. ↩
Mal. 2,10. ↩
Gen. 1,26.27; 9,6. ↩
Vgl. Matth. 25,40. 45. ↩
1 Joh. 4,20 ↩
Der Begriff sacrilegium bezeichnete ursprünglich den Tempeldiebstahl (vgl. Tert. ad Scap. 2: Tamen nos, quos sacrilegos existimatis, nee in furto unquam deprehenditis, nedum in sacrilegis), wurde aber vielfach auf den Begriff des Majestätsverbrechens überhaupt ausgedehnt, dem es nach Ulpian sehr nahe stand. ↩
