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Übrigens: hätten diese Männer die Möglichkeit gehabt, die wahre Gerechtigkeit kennenzulernen, deren Lohn Unsterblichkeit ist und die nur deshalb mit dem Schleier angeblicher Torheit verhüllt ist, damit sie als eine große Sache mit großen Kräften und großen Anstrengungen erstrebt wird — sie würden unbedenklich lieber als gerechte Toren gelten wollen denn als ungerechte Weise.1 Um so mehr, da ja ihre Täuschung offen zutage liegt. Es war ihnen ja nicht möglich, die Sache zu verdrehen, sondern nur die Namen, wenn sie die Gerechtigkeit mit der Bezeichnung Torheit, die Ungerechtigkeit mit der Bezeichnung Weisheit zu Unrecht bedachten. Führt man diese Bezeichnungen wieder auf ihre eigentliche Bedeutung zurück und verwendet sie wieder S. 83 im ursprünglichen Sinn, so findet man, daß vielmehr für die Ungerechtigkeit die Bezeichnung Torheit und für die Gerechtigkeit das Wort Weisheit paßt. Ich will das auch allezeit durch Aussprüche des heiligen Gesetzes beweisen. Es sagt einmal: „Weil die Welt in ihrer Weisheit die Weisheit Gottes nicht erkannt hat, hielt Gott es für das beste, durch die Predigt der Torheit diejenigen selig zu machen, die da glauben.„2 Und klarer noch ein andermal: „Wenn einer unter euch sich weise dünkt in dieser Welt, so werde er ein Tor, damit er weise werde. Denn die Weisheit dieser Welt ist Torheit bei Gott.“3 Und deshalb hat derselbe Gott sich durch den Propheten dahin ausgesprochen; „Es rühme sich kein Weiser ob seiner Weisheit, kein Starker ob seiner Stärke, kein Reicher ob seines Reichtums; wer sich rühmt, soll sich darob rühmen, daß er erkennt und weiß, daß ich der Herr bin, der Barmherzigkeit und Recht und Gerechtigkeit übt auf der Erde.„4 Mit wie wenig Worten hat er damit erschöpfend dieses ganze angestrengte Treiben der Welt gezeichnet! Denn es sind diese drei Dinge, die die Grundlage aller Laster sind, durch die die Menschheit wie durch heftige Stürme schiffbrüchig wird und jeden Augenblick in die Gefahr des Untergangs gerät. Die Weisheit nimmt die Backen voll mit einer Fülle von Beweisgründen, weiß ihre Lüge überzeugend und berückend in den Schmuck glänzender Rede zu kleiden, rüstet ihre Stimme mit Posaunenklang und ihre Zunge mit Schwertesschärfe und unterstellt so alle Streitfragen ihrer Entscheidung, sammelt die Massen um sich und hält vor ihnen Reden. Ihre Entscheidung in Streitigkeiten ist so, daß sie Keim zu neuen legt. Sie verursacht Verderbnis und Schlüpfrigkeit der Sitten.5 Sie ficht mit ihren Gesetzen ihre eigenen Gesetze an. Sie untergräbt das Recht durch Recht, Gibt es jemand, der nicht sieht, daß all ihr S. 84 Tun niemals recht ist oder recht gewesen ist?6 Wollt ihr wissen, wie gerecht sie ist? Sie fühlt sich unglücklich, wenn sie nicht die Wahrheit in ihr Gegenteil verwandeln kann. Weiter: Die Stärke, die der Mensch mit wilden Tieren teilt, findet alles Recht in der Gewalt. Was sie mit Gewalt durchzusetzen vermag, gilt ihr als Recht. Ohne jede Achtung vor dem, was bei Gott und Menschen Religion heißt, vernichtet sie ohne Veranlassung mit Feuer und Schwert eine Bevölkerung mit ihrer gesamten Habe, vernichtet Stadt und Land; mit dem Tod wie mit einem Freund vertraut, kennt sie vor nichts Furcht. Alles, was die Weisheit durch ihre Gesetzgebung in schaffendem Fleiß gesammelt, zerstreut sie zuweilen mit geschlossenem Auge mit einem einzigen Schlag. Und an dritter Stelle steht die Habsucht,7 die mit dem Reichtum verbunden ist; ihren Überfluß suchen die beiden andern in merkwürdiger Hast noch zu steigern. Für sie stellt sich die ganze Welt zum Kampf; ihrem Dienst weiht sich jedes Alter. Ach, welch ein Unrecht! Und was ist das für eine Blindheit: Sie lebt in allen, und alle beschweren sich über sie, als ob dem nicht so sei. Man klagt sie an — aber man huldigt ihr doch.“ Sie bringt die Menschen um — und findet dafür Liebe. Sie ist so recht die unüberwindliche Art des Unglücks: ihr beugt sich die Weisheit und ihr dient die Stärke.
Vgl. dazu besonders Lactantius, Divin. Instit. VI, 6,20-28. ↩
1 Kor. 1,21. ↩
1 Kor. 3,18. 19. ↩
Jer. 9,23. 24. ↩
Nach der Lesart der Ballerini: Pravos ac lubricos colligit mores (Giuliari liest: corrigit). ↩
Nach der Lesart der Ballerini: Aliquid illam facere vel fecisse, quod fecerit (Giuliari: fuerit). ↩
Nach den Ballerini: Tertio dives est avaritia (Giuliari: Tertia est avaritia). ↩
