4.
Ich glaube, daß damit das Blendwerk der Welt offen zutage liegt. Und da alle Menschen sich darin besser auskennen, als man sagen kann, ist es unnötig, weiter dabei zu verweilen. Ich will deshalb nunmehr zur wahren Gerechtigkeit übergehen, der Quelle und Mutter aller Tugenden.1 Mehr als alle andern stellt sie sich auf die Interessen der andern ein und sucht dieselben zu fördern; denn sie weiß, was man vor allem Gott schuldet, und sie sucht nichts für sich und behält nichts als ihr Eigentum, als das, was sie, ohne darüber Aufsehen zu machen, getreulich nach seinem Willen verwaltet. Sie steht vollständig in der Öffentlichkeit und steht in all ihren Kreisen; aber in einer Art, daß sie mehr gespürt als gesellen werden will; dabei ist sie ängstlich besorgt, nicht zu einer Partei zu neigen, selbst nicht in einem Punkt sich Vorwürfe machen zu müssen, niemals bei der Ausführung eines begonnenen Werkes zu ermüden. Sie S. 86 ist es, die das Joch von Gefangenen durch Loskauf derselben bricht; sie bringt den im Kerker Weilenden Linderung und lernt nur zu gut den Kerker selbst kennen; wachend in wohltuender Pflege teilt sie die Krankheit mit dem Kranken; sie bringt es nicht über sich, hingeworfene Leichen ohne Hülle und Bestattung zu lassen; der eigenen Not vergessend, streut sie still und reich den Samen ihrer Liebe über Armut und Unglück; sie läßt sich dabei nicht erst bitten und läßt sich auch nicht zum Entgelt den Lohn des Lobes spenden: das Eine hält sie für einen großen Verlust, das Letztere für ein Vergehen. Da sie nichts für sich behält, ist sie der Habsucht an beseligender Begierde voraus: die Habsucht nimmt von Menschen Besitz, sie von Gott. Höret noch, wie groß die Liebe, wie groß die Demut ist, in der sie zu dem für sie bestimmten Wohnsitz, zu der ihr in Aussicht gestellten Siegespalme eilt! Wenn jemand sie vor Gericht zieht, um ihr den Rock streitig zu machen, überläßt sie ihm aus freien Stücken auch den Mantel;2 sie wird geschmäht, und sie segnet;3 sie wird geschlagen, und sie dankt hierfür; sie wird hingemordet, und sie leistet keinen Widerstand; ja sie betet noch dazu für ihre Mörder zu Gott, Nur eine Sorge beschäftigt sie vornehmlich, nur eines sucht sie aus allen Kräften zu vermeiden: nicht etwa der Welt etwas zu schulden, nichts von dem Gesagten verdientermaßen leiden zu müssen. Leute, welche die göttlichen Schriften nicht gelesen haben oder, wenn sie dieselben gelesen haben, ihnen keinen Wert beimessen — sie machen deren gewöhnliche ungefeilte Sprache dafür geltend, die aber doch zum Ausdruck bringt: „Wenn ihr nicht glaubet, so werdet ihr nicht verstehen"4 — solche Leute halten diese Gerechtigkeit für Torheit und machen sich über sie als eine nutzlose Sache lustig; denn wenn sie die Güter der Welt genießen könnte, aber S. 87 es nicht tue, so sei sie an ihrem Unglück selbst schuld; und das wollen sie nicht glauben, daß der Mensch, der die Gebote Gottes hält und um ihrer Verpflichtungen willen die Freuden der Welt mit Füßen tritt, dereinst, wenn er Sieger sein wird, frei von den Banden des Fleisches, die unermeßliche Seligkeit der verheißenen Unsterblichkeit sein eigen nennen wird.
