45. Nach der Wiederherstellung des Tempels hatten die Juden keine Propheten mehr und wurden fortan bis zur Geburt Christi unablässig von Unheil heimgesucht, damit sich zeige, daß die Propheten bei ihren Verheißungen die Erbauung eines anderen Tempels im Auge gehabt hatten.
Seitdem das Volk der Juden keine Propheten mehr hatte, verschlechterte sich seine Lage zusehends, und das war zu der Zeit, da es nach der Rückkehr aus der Gefangenschaft und nach Wiederherstellung des Tempels auf Besserung hoffte. So verstand eben dieses irdisch gesinnte Volk die Verheißung des Propheten Aggäus1: „Groß wird die Herrlichkeit dieses letzten Hauses sein, größer als die des ersten“, obwohl der Prophet kurz vorher darauf hinweist, daß dies vom Neuen Bund gelte, indem er deutlich Christum verheißt in den Worten2: „Ich werde alle Völker in Bewegung setzen, Band 28, S. 1123und es wird der von allen Völkern Ersehnte kommen.“ Hier haben übrigens die siebzig Übersetzer einem anderen Gedanken, der mehr auf den Leib als auf das Haupt paßt, d. i. mehr auf die Kirche als auf Christus, mit prophetischem Gewicht Ausdruck verliehen; sie sagen nämlich: „Es wird das Auserwählte des Herrn kommen von allen Völkern“, das heißt die Menschen, von denen Jesus selbst im Evangelium sagt3: „Viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt.“ Aus solchen Auserwählten aus den Völkern baut sich das Haus Gottes auf im Neuen Bund, aus lebendigen Steinen, weit herrlicher, als jener Tempel war, der von König Salomon errichtet und nach der Gefangenschaft wiederhergestellt wurde. Deshalb also hatte das Volk der Juden von da ab keine Propheten mehr und wurde es in viele Niederlagen verwickelt durch auswärtige Könige und zuletzt durch die Römer, damit es nicht meine, diese Weissagung des Aggäus habe in der Wiederherstellung des Tempels ihre Erfüllung gefunden.
Nicht lang hernach nämlich kam Alexander ins Land und unterwarf es sich; und wenn auch keine Verheerung damit verbunden war, weil ihm die Juden keinen Widerstand entgegenzusetzen wagten, sondern sich ohne weiters ergaben und deshalb Gnade bei ihm fanden, so war doch die Herrlichkeit jenes Gotteshauses nicht so groß, wie sie zur Zeit der selbständigen Könige gewesen. Daß übrigens Alexander im Tempel Gottes Opfer darbrachte, geschah nicht, als ob er sich zur Verehrung Gottes in wahrer Frömmigkeit hingewandt hätte, sondern weil er in gottloser Verblendung der Meinung war, er müsse Gott neben den falschen Göttern verehren. Hierauf versetzte Ptolomäus, Sohn des Lagus, nach Alexanders Tod, wie erwähnt4, die Juden als Gefangene von Judäa nach Ägypten, während sein Nachfolger Ptolomäus Philadelphus sie sehr gnädig von dort wieder entließ; durch ihn sind wir zu den heiligen Schriften der siebzig Übersetzer gekommen, wie ich weiter oben erzählt habe. Später hatten die Juden schwer zu leiden Band 28, S. 1124in den Kriegen, von denen die Makkabäerbücher berichten. Da wurden sie von dem König von Alexandrien, Ptolomäus, zubenannt Epiphanes, in Gefangenschaft gebracht, hierauf von Antiochus, König von Syrien, durch viele und sehr schwere Drangsale zur Verehrung von Götzenbildern gedrängt, und dabei ergriff der gotteslästerliche heidnische Aberglaube sogar Besitz vom Tempel, den jedoch ihr sehr unternehmender Anführer Judas, der auch Makkabäus heißt, nach Überwindung der Feldherren des Antiochus wieder reinigte von all dieser Entweihung durch Götzendienst.
Aber alsbald wurde ein gewisser Alcimus Hoherpriester durch ehrgeizige Umtriebe, und das war ein Frevel, da er nicht aus dem hohenpriesterlichen Geschlechte stammte. Und beinahe fünfzig Jahre später, während deren sie auch keinen Frieden genossen, wenn ihnen schon manches glücklich hinausging, wurde Aristobolus durch Annahme des Diadems König5, seit langer Zeit wieder der erste bei ihnen, und zugleich Hoherpriester. Denn vordem, seit der Rückkehr aus der babylonischen Gefangenschaft und der Wiederherstellung des Tempels, hatten sie keine Könige, sondern nur Anführer oder Oberste; freilich kann man auch den König als Obersten bezeichnen auf Grund der obersten Herrschaftsgewalt, und ebenso als Anführer, weil er Anführer des Heeres ist; aber nicht umgekehrt kann jeder Oberste oder Anführer auch schon als König bezeichnet werden, wie dieser Aristobolus einer war. Ihm folgte, ebenfalls König und Hoherpriester zugleich, Alexander6, der eine Schreckensherrschaft führte, wie überliefert ist. Nach ihm war seine Gemahlin Alexandra Königin der Juden, und von da ab wurde das Volk von noch schlimmeren Drangsalen heimgesucht. Die Söhne dieser Alexandra nämlich, Aristobolus und Hyrcanus, stritten miteinander um die Herrschaft und riefen die römische Streitmacht auf wider das israelitische Volk. Damals hatte Rom bereits Afrika unterjocht, hatte Griechenland unterjocht und gebot weithin auch über andere Teile des Band 28, S. 1125Erdkreises, war aber, wie außerstande sich selbst zu tragen, gewissermaßen unter seiner eigenen Größe zusammengebrochen. War es doch zu schweren inneren Aufständen gekommen und weiterhin zu Kriegen mit den Bundesgenossen und bald auch zu Bürgerkriegen, und so sehr hatte sich dabei das Reich geschwächt und aufgerieben, daß eine Änderung der Staatsverfassung durch Wiedereinführung des Königtums kaum zu umgehen schien. Da nun erscheint Pompeius, der hervorragendste Führer des römischen Volkes, mit einem Heer in Judäa, nimmt die Hauptstadt ein, verschafft sich Zutritt zum Tempel, nicht zur Verrichtung seiner Andacht, sondern nach dem Rechte des Siegers, und begibt sich ins Allerheiligste, das nur der Hohepriester betreten durfte, ebenfalls nicht in der Absicht der Verehrung, sondern zur Entweihung, und führt den Aristobolus in Fesseln mit sich fort, nachdem er den Hyrcanus im Hohenpriesteramt bestätigt und dem unterjochten Volk den Antipater als Aufseher bestellt hat, als Landpfleger, wie man damals diese Gewalthaber nannte. Von da ab waren die Juden den Römern überdies abgabepflichtig. Auch Cassius hat nachmals den Tempel beraubt. Wenige Jahre danach erhielten die Juden um ihrer Mißverdienste willen selbst einen Ausländer zum König, den Herodes, unter dessen Herrschaft Christus geboren wurde. Denn schon war die Fülle der Zeiten herangekommen, wie sie in seherischem Geiste durch den Mund des Patriarchen Jakob gekennzeichnet worden war in den Worten7: „Es wird nicht mangeln an einem Obersten aus Juda, an einem Anführer aus seinen Lenden, bis der kommt, dem es hinterlegt ist, und er wird die Erwartung der Völker sein.“ In der Tat hat es den Juden nicht an einem Obersten aus ihrem Volksstamme gefehlt bis auf diesen Herodes, den ersten ausländischen König. Es war also nunmehr die Zeit da, wo der kommen sollte, welchem die dem Neuen Bund geltenden Verheißungen hinterlegt sind, auf daß er die Erwartung der Völker sei. Es hätte aber nicht dazu kommen können, daß die Völker seine Ankunft ersehnten, wie wir sie in der Tat sehnsüchtig erwarten sehen, Band 28, S. 1126daß er komme Gericht zu halten in Herrlichkeit und Macht, wenn sie nicht vorher an ihn geglaubt haben würden, als er kam Gericht über sich ergehen zu lassen in Demut und Geduld8.
