Kap. 9. Eine eingehende Betrachtung im einzelnen zeigt, wie lückenlos und vollständig das Gebet des Herrn ist. Schon in der Anrede „Vater unser" ist ausgedrückt, daß wir uns seit der Taufe als Gottes Söhne betrachten dürfen.
Welcher Art nun, geliebteste Brüder, sind die heiligen Geheimnisse, die im Gebete des Herrn enthalten sind, wie zahlreich sind sie, wie bedeutsam, in Worten zwar kurz zusammengefaßt, aber in der Kraft dem Geiste nach überreich; nicht das Mindeste ist da übergangen, und es gibt nichts, was nicht in unseren Bitten und Gebeten trotz der kurzen Zusammenfassung der himmlischen Lehre mit einbegriffen wäre. „Betet also", sagt er: „Vater unser, der Du bist im Himmel"! Der neue, wiedergeborene und seinem Gott durch dessen Gnade zurückgegebene Mensch sagt zu allererst: „Vater", weil er bereits angefangen hat, sein Sohn zu sein. „In sein Eigentum", heißt es, „kam er, und die Seinigen nahmen ihn nicht auf. Soviele ihn aufnahmen, denen gab er die Macht, Gottes Söhne zu werden, die an seinen Namen glauben"1 . Sobald einer also „an S. 173 seinen Namen glaubt" und ein Sohn Gottes geworden ist, muß er damit beginnen, daß er Dank sagt und sich offen als einen Sohn Gottes bekennt, indem er Gott seinen Vater im Himmel nennt. Auch soll er gleich bei den ersten Worten nach seiner Wiedergeburt bezeugen2 , daß er dem irdischen und fleischlichen Vater entsagt und nunmehr angefangen hat, nur den als seinen Vater zu kennen und anzusehen, der im Himmel ist, wie geschrieben steht: „Die zu Vater und Mutter sagen: ,Ich kenne dich nicht' und ihre Söhne nicht anerkennen, diese haben Deine Gebote beobachtet und Deinen Bund bewahrt"3 . Ebenso hat der Herr in seinem Evangelium geboten, wir sollten niemand auf Erden unseren Vater nennen, weil wir eben nur den einen Vater haben, der im Himmel ist4 . Und einem Jünger, der seines verstorbenen Vaters Erwähnung tat, erwiderte er: „Laß die Toten ihre Toten begraben!"5 Er hatte nämlich gesagt, sein Vater sei tot, während der Vater der Gläubigen doch lebendig ist.
