Erster Artikel. Der Sitz der Tugend ist immer ein Vermögen der Seele.
a) Dementgegen scheint zu sein: I. Augustin, der (2. de lib. arb. 19.) schreibt, „kraft der Tugend werde recht gelebt.“ „Leben“ aber beruht nicht auf einem Vermögen, sondern auf dem Wesen der Seele. II. Aristoteles (2 Ethic. 6.): „Die Tugend macht gut den, der sie hat und macht desgleichen gut sein Werk.“ Wie aber das Werk hergestellt wird durch ein Vermögen, so derjenige, der sie hat, durch das Wesen der Seele. Also ebenso gut wie ein Vermögen, ist Sitz der Tugend die Wesenheit der Seele. III. Ein „Vermögen“ als solches findet sich in der zweiten Gattung von Eigenschaften; die „Tugend“ aber ist eine Eigenschaft, wie gesagt worden. Da nun die eine Eigenschaft nicht Sitz einer anderen ist, so findet sich die Tugend nicht in einem Vermögen wie in ihrem Subjekte. Auf der anderen Seite ist die Tugend das „Letzte des Vermögens“. Das „Letzte“ aber ist in dem, dessen „Letztes“ es ist. Also hat die Tugend in einem Vermögen ihren Sitz.
b) Ich antworte, daß aus drei Gründen hervorgehe, wie die Tugend immer einem Seelenvermögen angehöre: 1. Die Tugend ist ihrem Wesen nach eine Vollendung des Vermögens; jede Vollendung aber ist in dem befindlich, dessen Vollendung sie ist. 2. Die Tugend ist ein thätig wirksamer Zustand; jedes Wirken aber geht von der Seele vermittelst eines Vermögens aus. 3. Die Tugend bereitet vor zum „im höchsten Grade Guten“. Das aber ist der Zweck, also die Thätigkeit selbst oder das durch irgend welche Thätigkeit, die ja immer von einem Vermögen ausgeht, Erreichte.
c) I. „Leben“ bezeichnet manchmal das Sein selber; und so gehört es der Wesenheit der Seele an als des Lebensprincips. Andere Male bezeichnet es die Thätigkeit des Lebenden; und so steht es in der Definition der Tugend. II. Ein „Gut“ wird der Zweck genannt oder es steht in Beziehung zum Zwecke. Da also das Gute des Wirkenden im Thätigsein besteht, bezieht sich der Umstand selber, daß die Tugend das Werk zu einem guten macht, auf das Thätigsein und somit auf das Vermögen. III. Eine Eigenschaft kann in einer anderen sein, weil sie vermittelst dieser anderen dem Subjekte innewohnt; wie die Farbe der Oberfläche zu gehört, weil auf Grund und vermittelst des Subjektes.
