Dritter Artikel. Die Vernunft ist 5itz von Tugenden.
a) Dem steht entgegen: I. „Alle Tugend ist Liebe,“ sagt Augustin. (de morib. Eccles. 15.) Die Liebe aber hat ihren Sitz im Begehren. II. Die Tugend hat Beziehung zum Guten; das Gute aber ist nicht Gegenstand der Vernunft. III» „Die Tugend macht gut den, der sie hat.“ Ein die Vernunft vollendender Zustand aber macht nicht gut den, der ihn hat; denn allein infolge seines Wissens oder seiner Kunst wird jemand nicht als „gut“ betrachtet. Auf der andsren Seite ist der vernünftige Geist vorzugsweise Vernunft. In der Definition der Tugend aber heißt es, sie sei „eine Eigenschaft des vernünftigen Geistes.“
b) Ich antworte; die Tugend sei „ein Zustand, den jemand gut gebraucht.“ In doppelter Weise nun hat ein Zustand Beziehung zum Guten: einmal, insoweit er die Fähigkeit oder Fertigkeit für etwas verleiht, wie die Grammatik die Fertigkeit verleiht, richtig zu sprechen; trotzdem aber kann jemand, wenn er will, schlecht sprechen; — dann, insoweit ein Zustand auch es verleiht, die erlangte Fertigkeit gut zu gebrauchen; wie die Gerechtigkeit es nicht nur verleiht, daß jemand die Bereitwilligkeit habe zu gerechten Werken, sondern auch daß er solche wirklich vollbringt. Und da das „Gute“ wie auch das „Sein“ schlechthin nicht ausgesagt wird von dem, was nur vermögend für etwas ist oder eine diesbezügliche Fertigkeit hat, sondern soweit etwas thatsächliches Sein hat; — so wird ein Mensch von solchen Zuständen her schlechthin als „gut“ bezeichnet, welche die gute Thätigkeit selber verleihen; also z. B. weil er gerecht oder mäßig ist. Solche Zustände also sind schlechthin „Tugenden“, welche den guten Gebrauch der erlangten Fertigkeit geben und nicht bloß, wie die erstgenannten Zustände, die Fertigkeit allein; die also nicht das „Werk zu einem guten machen“. Denn nicht weil jemand etwas weiß oder ein Künstler ist, wird er ein „guter Mensch“ schlechthin genannt, sondern nur mit Einschränkung d. h. ein guter Grammatiker oder ein guter Künstler. Deshalb stellt man oft Wissenschaft und Kunst gegenüber der Tugend; manchmal werden sie jedoch auch „Tugenden“ genannt, wie 6 Ethic. 2. Sitz also eines Zustandes, der da mit Einschränkung als Tugend bezeichnet wird, nämlich nur nach einer gewissen Seite hin kann auch die Vernunft sein, sowohl die spekulative oder rein beschauliche wie die praktische, auf die Thätigkeit nach außen gerichtete; und so zählt Aristoteles auf (6 Ethic. 3.): „Die Wissenschaft, die Weisheit, das Verständnis der Grundprincipien, die Kunst.“ Sitz oder Subjekt einer Tugend, die schlechthin so genannt wird, kann nur der Wille sein oder ein Vermögen, soweit es vom Willen in Bewegung oder Thätigkeit gesetzt ist. Denn der Wille setzt alle anderen Vermögen, die in etwa an der Vernunft teil haben, in die ihnen eigene Thätigkeit. Daß also der Mensch gut handelt, das trifft deshalb zu, weil er einen guten Willen hat. Die eigentliche Tugend, die ja macht, daß jemand thatsächlich gut wirkt, nicht bloß daß er die Fertigkeit dazu erhält, muß demnach entweder im Willen sein oder in einem anderen Vermögen, insoweit es vom Willen in Thätigkeit gesetzt worden. Nun wird die Vernunft vom Willen aus in Thätigkeit gesetzt wie die anderen Vermögen; denn es erwägt jemand etwas thatsächlich, je nachdem er will. So also, insofern sie Beziehung hat zum Willen, kann die Vernunft auch schlechthin Sitz einer Tugend sein. Und so ist die rein beschauliche Vernunft der Sitz des Glaubens; denn infolge des Befehls von seiten des Willens wird die Vernunft in Thätigkeit gesetzt, um den Glaubenspunkten beizustimmen, da Niemand glaubt außer weil er will. Die auf das Thätigsein gerichtete Vernunft aber ist Sitz der Klugheit. Denn da die Klugheit „die rechte Richtschnur oder der thatsächliche Grund ist für das zu Wirkende,“ so wird dazu erfordert, daß der Mensch im rechten Verhältnisse stehe zu den Principien solcher Richtschnur oder solchen Grundes, die da eben die verschiedenen Zwecke sind; und in dieses richtige Verhältnis wird er gebracht durch die Geradheit des Willens, wie für die Principien der reinen Beschauung besteht das natürliche Licht der einwirkenden Vernunft, des intellectus agens. Wie also als der Sitz oder das Subjekt der Wissenschaft, welche der rechte Grund ist für das Beschauliche und zu Betrachtende, die spekulative Vernunft dasteht kraft ihrer Beziehung zur einwirkenden Vernunft; so steht als Sitz oder Subjekt der Klugheit da die praktische Vernunft kraft ihrer Beziehung zum rechten, geraden Willen.
c) I. Jede Tugend hängt einigermaßen vom Willen ab und somit von der Liebe, der ersten Regung des Willens. II. Das „Wahre“ ist Zweck der Vernunft. Also das Wahre erkennen ist eine gute Thätigkeit der Vernunft und der entsprechende Zustand eine Tugend. III. Dies gilt von der Tugend schlechthin.
