Vierter Artikel. Die Begehr- und Abwehrkraft, die concupiscibbilis und irascibilis, sind Sitz oder Subjekt für die Tugend.
a) Dagegen spricht: I. Diese Kräfte sind uns gemeinsam mit den Tieren. Hier ist aber die Rede von der menschlichen Tugend. II. Der begehrende sinnliche Teil ist wesentlich an stoffliche Organe wie an Werkzeuge gebunden. Im Körper aber ist keine Tugend, nach Röm. 7.: „In meinem Fleische wohnt nichts Gutes.“ III. Augustin beweist (de morib. Eccl. 5.): „Die Tugend ist nicht im Körper, sondern in der Seele; denn durch die Seele wird der Körper geleitet. Daß also jemand seinen Körper gut gebraucht, das Alles muß auf die Seele zurückgeführt werden; wie wenn der Wagenleiter mir gehorcht und die Pferde, denen er vorgesetzt ist, recht leitet, dies Alles mir geschuldet wird.“ Wie aber die Seele den Körper regiert, so die Vernunft das sinnliche Begehren. Daß also die Begehr- und Abwehrkraft recht geleitet werde, das kommt ganz und gar von der Vernunft. Da nun kraft der Tugend man recht lebt, so ist keine Tugend in der Begehr- und Abwehrkraft, sondern nur im vernünftigen Teile. IV.„Die hauptsächlichste Thätigkeit der moralischen Tugend ist die Auswahl,“ sagt Aristoteles. (8 Ethic. 13.) Dies ist aber nur der Vernunft eigen und nicht sinnlichen Kräften. Auf der anderen Seite wird der Stärke als Sitz die Abwehrkraft zugeteilt; der Mäßigkeit die Begehrkraft; nach 3 Ethic. 10.
b) Ich antworte; an sich betrachtet als rein sinnlichen Kräften komme es den genannten Vermögen nicht zu, Sitz von Tugenden zu sein; wohl aber, insoweit sie von Natur geeignet sind, der Vernunft zu gehorchen. Denn so aufgefaßt ist der sinnliche Teil Princip menschlicher Thätigkeit und danach müssen Tugenden ihn vollenden. Denn die Thätigkeit, welche von dem einen Vermögen ausgeht, insofern es in Bewegung gesetzt worden ist vom anderen, kann eine vollendete nicht sein, wenn nicht jedes von beiden Vermögen in guter Verfassung ist für die Thätigkeit; wie wenn der Handwerker etwas Tüchtiges machen will, er und das entsprechende Werkzeug in guter Verfassung sein muß. Soweit also die Begehr- und Abwehrkraft in Bewegung gesetzt sind von seiten der Vernunft, muß in diesen Kräften eine entsprechende Tugend sich finden. Und da nun die gute Verfassung eines in Thätigkeit gesetzten Vermögens sich richtet nach der Gleichförmigkeit mit dem Vermögen, welches in Thätigkeit setzt, so ist die Tugend, welche in der Begehr- und Abwehrkraft sich findet, nichts Anderes als eine gewisse gewohnheitsmäßige Gleichförmigkeit dieser Kräfte mit der Vernunft.
c) I. Insoweit die sinnlichen Kräfte im Menschen von Natur geeignet sind, der Vernunft zu folgen, sind sie dem Menschen allein eigen. II. Unser Fleisch hat wohl an sich betrachtet nichts Gutes in sich; aber insoweit es unter dem Vorsitze der Vernunft Werkzeug wird zu einem tugendhaften Akte, „bieten wir,“ nach Paulus (Röm. 7.), „unsere Glieder dar, um der Gerechtigkeit zu dienen.“ So ist auch in der Begehr- und Abwehrkraft an sich betrachtet vielmehr der ansteckende Reiz zur Sünde; insoweit sie aber der Vernunft folgen, wird in ihnen erzeugt das Gut der moralischen Tugend. III. Der Körper folgt in den Dingen, in welchen er von Natur bestimmt ist durch die Seele bewegt zu werden, augenblicklich der Seele. Denn „die Seele leitet den Körper wie einen Sklaven,“ sagt Aristoteles 1 Polit. 3.; und somit wird alle Bewegung des Körpers auf die Seele zurückgeführt und bedarf es da keiner Tugend in den Gliedern des Körpers. Die Begehr- und Abwehrkraft aber folgen nicht in solcher Weise der Vernunft. Sie haben eigene Bewegungen und Thätigkeiten, deren bewegendes Princip in ihnen selber ist; und danach widerstreiten sie manchmal der Vernunft; „sie werden wie Freie regiert,“ sagt Aristoteles, „die in Manchem ihren eigenen Willen haben.“ Und deshalb müssen in diesen Kräften Tugenden sein, welche solche (eigene) Bewegungen regeln gemäß der Vernunft. IV. In der Auswahl ist 1. die auf den Zweck gerichtete Absicht, die zur moralischen Tugend gehört; und 2. die Auswahl unter dem Zweckdienlichen, was zur Klugheit gehört. Daß nun immer recht der Zweck gewollt wird mit Rücksicht auf die Leidenschaften der Seele, das kommt von der guten Verfassung der Begehr- und Abwehrkraft. Und deshalb sind die moralischen Tugenden mit Rücksicht auf die Leidenschaften in diesen Kräften; die Klugheit aber ist in der Vernunft.
