Zweiter Artikel. Drei beschauliche Tugenden giebt es: die Weisheit, die Wissenschaft und das Verständnis.
a) Demgegenüber wird aufgestellt: I. „Die Weisheit ist eine gewisse Wissenschaft“ wird 6 Ethic. 7. gesagt. Also kann die Weisheit nicht als besondere Gattung neben die Wissenschaft gestellt werden. II. Die Unterscheidung der Vermögen, Zustände, Thätigkeiten, die ja von den Gegenständen her abgeleitet wird, muß man beurteilen an erster Stelle gemäß dem eigentlichen maßgebenden Unterscheidungsgrunde in den Gegenständen und nicht nach dem materialen stofflichen Bestände derselben. Nun ist aber der maßgebende Beweisgrund für das Wissen rücksichtlich der Schlußfolgerungen das Princip des Beweises. Also darf das „Verständnis der Grundprincipien“ nicht als ein anderer Zustand angesehen werden wie das Wissen, welches die Schlußfolgerungen umfaßt. III. Die rein beschauliche Tugend ist in dem, was dem Wesen nach vernünftig ist. Die Vernunft aber ist nicht nur thätig, insoweit sie zuverlässige Beweise aufstellt, also den Zustand des Wissens hat; sondern auch wenn sie mit Wahrscheinlichkeiten vorgeht. Also wie die Wissenschaft da als Tugend aufgestellt wird, so müßte auch die bloße Meinung es werden. Auf der anderen Seite stellt Aristoteles (6 Ethic.) diese drei rein beschaulichen Tugenden auf.
b) Ich antworte, eine rein beschauliche Tugend sei jene, durch welche die Vernunft vollendet wird, um das Wahre zu erkennen; denn das ist ihr Gut. Das Wahre nun kann in doppelter Weise betrachtet werden: einmal als an und durch sich allein gekannt; dann als gekannt auf Grund von etwas Anderem und durch etwas Anderes. Das erstgenannte Wahre hat den Charakter des Princips und wird ohne weiteres von der Vernunft kraft deren Natur wahrgenommen; deshalb wird der entsprechende Zustand in der Vernunft genannt das Verständnis der Grundprincipien. Das Wahre aber, was erst erkannt wird, weil etwas Anderes gekannt worden, wird nicht sogleich wahrgenommen, sondern erst infolge einer Untersuchung als Abschluß derselben. Und zwar kann es entweder in einer gewissen Seinsweise der Abschluß oder das Letzte sein; — oder es kann dies sein mit Rücksicht auf alles menschliche Wissen. Dieses letztere Wahre, was am Abschlüsse der gesamten menschlichen Kenntnis steht, bildet den Inhalt der Weisheit, welche die letzten höchsten Gründe der Dinge betrachtet, die wohl ihrer Natur nach am meisten erkennbar sind; aber eben deshalb, wegen des zu großen ihnen innewohnenden Lichtes, erst schließlich am Ende von uns erkannt werden. Nach der Weisheit sonach kann man über Alles urteilen und Alles regeln. Ist aber etwas Wahres der Abschluß einer besonderen Seinsart, so geht darauf die Wissenschaft; und so wird gemäß den verschiedenen Arten der wissenswerten Gegenstände durch verschiedene Wissenschaften die Vernunft vollendet, während die Weisheit nur eine ist.
c) I. Die Weisheit hat das mit allen Wissenschaften gemeinsam, daß sie aus den Principien heraus die Schlußfolgerungen zieht. Das hat sie aber mehr als alle Wissenschaften, daß sie über Alles urteilt, nicht nur über die Schlußfolgerungen, sondern auch über die ersten Principien; und so ist sie eine vollkommenere Tugend wie die Wissenschaft. II. Wenn der unterscheidende Grund in dem Gegenstande unter ein und demselben thatsächlich bestimmenden Gesichtspunkte auf das Vermögen oder den Zustand sich richtet, dann werden die Vermögen oder Zustände nicht unterschieden gemäß dem unterscheidenden formalen Grunde im Gegenstande und dessen materialem Bestände; wie z. B. ein und demselben Sehvermögen es angehört, die Farbe und ebenso das Licht, den unterscheidenden formalen Grund, weshalb die Farbe, also das Materiale, gesehen wird, wahrzunehmen und zwar zugleich. Die Principien einer Beweisführung aber, also die unterscheidenden Gründe, weshalb etwas als zuverlässig dasteht, können nun ganz gut getrennt für sich erwogen werden, ohne daß man die Schlußfolgerungen erwägt. Sie können jedoch auch zugleich mit den Schlußfolgerungen erwogen werden, insofern der Einfluß der Principien bis zu diesen hineinreicht. In dieser letzteren Weise also die Principien betrachten, das gehört zur Wissenschaft; diese selben Principien betrachten für sich allein, getrennt, das gehört zum Verständnisse der Principien. So sehen wir also, daß diese drei Tugenden nicht gerade drei gleichberechtigte Gattungen sind, sondern ein gewisses Verhältnis zu einander haben; wie dies bei einem Ganzen gewöhnlich der Fall ist, das aus verschiedenen, untereinander geordneten Vermögen besteht, von denen das eine vollkommener ist, wie das andere; wie z. B. die vernünftige Seele vollendeter ist wie die bloß sinnbegabte und diese vollendeter wie die nur mit pflanzlichen Kräften ausgestattete. In dieser Weise hängt nun auch die Wissenschaft ab vom Verständnisse der Principien; und Beides hängt ab von der Weisheit, welche über die Schlußfolgerungen und die Principien urteilt und Alles abmißt. III. Die Tugend geht auf das Gute. Also nur jene Zustände in der Vernunft werden „Tugenden“ genannt, welche immer auf das Gute der Vernunft, also auf das Wahre sich richten; und niemals auf das Falsche. Mutmaßen und Meinen aber können auch das Falsche zum Gegenstand haben; und somit sind sie keine Tugenden.
