Erster Artikel. Die Zustände in der beschaulichen, spekulativen Vernunft sind Tugenden.
a) Dem steht entgegen: I. Die Tugend ist ein wirksam thätiger Zustand; kann also nicht in der rein beschaulichen Vernunft sein. II. Die Tugend berücksichtigt das, wodurch der Mensch glücklich wird; denn „die Glückseligkeit ist der Lohn der Tugend“, heißt es 1 Eethic. 9. Die spekulativen Zustände aber richten sich nicht auf die menschliche Thätigkeit oder auf sonstige Güter, wodurch der Mensch glücklich wird; sondern vielmehr auf göttliche Dinge und auf Naturkräfte und Naturerscheinungen. Also sind sie keine Tugenden. III. Wissen ist ein beschaulicher Zustand. Wissen aber wird so gegenübergestellt der Tugend, wie verschiedene „Arten“ von Zuständen sich gegenüberstehen. Also ist Wissen allein keine Tugend. Auf der anderen Seite bildet den Gegenstand nur allein für die rein beschaulichen Zustände das Notwendige, nämlich das was unmöglich sich anders verhalten kann. Aristoteles aber verlegt in jenes Vermögen der Seele, dessen Gegenstand das Notwendige ist, einige Tugenden. Also sind in der beschaulichen Vernunft Tugenden.
b) Ich antworte; da jede Tugend ihrem Wesen nach auf das Gute gerichtet ist, so kann sie entweder es so sein, daß sie die Fertigkeit giebt für gutes Wirken, oder so, daß sie auch den guten Gebrauch dieser Fertigkeit verleiht. Letzteres nun geht nur das Begehrvermögen an, dem es eigen ist zu bewirken, daß man sich aller Vermögen und aller Zustände gut bedient. Im ersten Sinne also nur können Zustände in der rein beschaulichen Vernunft Tugenden genannt werden; insoweit sie eine gewisse Fertigkeit herstellen für gutes Wirken, nämlich die Kenntnis des Wahren als des Gutes der Vernunft. Denn daraus daß jemand den Zustand einer Wissenschaft besitzt, neigt er noch nicht dazu, sich dessen zu bedienen; sondern er wird nur fähig oder geeignet, das Wahre in dem zu betrachten, wovon er Wissen hat. Daß er sich der Wissenschaft nun thatsächlich bedient, das kommt vom Willen, der in Thätigkeit setzt, so daß die Tugend, welche im Willen ist, wie die Liebe, Gerechtigkeit, macht, daß man auch gut gebrauche die Tugenden in der rein beschaulichen Vernunft. Geschehen also die Akte dieser letzteren aus Liebe, so sind auch sie verdienstvoll; wie Gregor (6. moral. 18.) sagt: „Das beschauliche Leben ist verdienstvoller wie das thätig wirksame.“
c) I. Es giebt ein doppeltes Thätigsein, ein äußerliches und ein innerliches. Das sogenannte „praktische“ Thätigsein wird nun vom äußerlichen her genommen. Die „beschauliche“ Vernunft aber hat Beziehung zum innerlichen Thätigsein, nämlich zur Betrachtung des Wahren; und danach ist die entsprechende Tugend in ihr ein wirksamer Zustand. II. In doppelter Weise berücksichtigt die Tugend etwas: einmal wie sie ihre Gegenstände berücksichtigt; und danach sind die rein beschaulichen Tugenden nicht dem zugewandt, wodurch der Mensch glücklich wird; es sei denn daß die wirkende Ursache gemeint wäre oder der Gegenstand der vollendeten Glückseligkeit, Gott nämlich; — dann berücksichtigt die Tugend etwas, wie das Thätigsein selber, was vermittelst und kraft der Tugend sich vollzieht; und so sind die beschaulichen Tugenden dem zugewandt, wodurch der Mensch glücklich wird, sowohl weil die solchen Tugenden entsprechenden Thätigkeiten verdienstvoll sein können, als auch weil ein solches Thätigsein der Anfang gleichsam ist für die vollendete Seligkeit, die in der Anschauung der ewigen Wahrheit besteht. III. Wissen wird in der besagten Weise gegenübergestellt der Tugend; nämlich insoweit letztere im begehrenden Teile ist und somit den guten Gebrauch giebt.
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