Sechster Artikel. Die Eubulia, Synesis, Gnome sind Tugenden, die zur Klugheit hinzutreten.
a) Das scheint unzulässig. Denn: I. „Eubulia“ ist ein Zustand, kraft dessen wir uns gut beraten. (6 Ethic. 9.) Das ist aber schon in der Klugheit inbegriffen. II. Dem Höheren gebührt es, über das tiefer Stehende zu urteilen. Der „Synesis“ aber kommt es zu, gut zu urteilen. Also ist sie die eigentliche höhere Tugend und nicht eine nur hinzutretende. III. Sowie verschieden sind die Dinge, über die wir urteilen, so sind verschieden die Dinge, über welche wir beratschlagen. Nun wird rücksichtlich alles Ratschiagens nur eine Tugend angesetzt, die Eubulia. Also dürfte man auch rücksichtlich des Urteilens nur eine Tugend verzeichnen und nicht zwei: die Synesis und die Gnome. IV. Cicero setzt (2. de inv. Rhet.) drei andere Tugenden anstatt dieser: „Die Erinnerung an das Vergangene, das Verständnis des Gegenwärtigen, das Vorsehen rücksichtlich des Zukünftigen.“ Macrobius (de somnio Scipionis lib. I. c. 8.) verzeichnet wieder andere Teile, wie die Vorsicht, das Sichbelehrenlassen etc. Also sind jene drei Tugenden nicht die einzigen zur Klugheit hinzutretenden. Auf der anderen Seite steht de Autorität des Aristoteles(6 Ethic. 9.)
b) Ich antworte; in allen zu einander in geordneter Beziehung stehenden Vermögen sei jenes das hauptsächliche, welches auf den hauptsächlicheren Akt hin gerichtet ist. Nun werden mit Rücksicht auf das menschliche Wirken drei Thätigkeiten der Vernunft gefunden; von denen die erste ist das Beraten, die zweite das Urteilen, die dritte das Vorschreiben. Die ersten beiden Thätigkeiten nun entsprechen der beschaulichen Vernunft, deren Akte sind: Untersuchen und Urteilen; — die dritte ist recht eigentlich ein Akt der praktischen Vernunft, die auf das Wirken nach außen hin gerichtet ist; denn die Vernunft kann nicht das vorschreiben, was vermittelst des Menschen nicht geschehen kann. Offenbar ist aber nun in dem, was durch den Menschen geschieht, die hauptsächlichste Thätigkeit das Befehlen; denn daraufhin sind alle anderen Thätigkeiten hingeordnet. Und deshalb werden der Haupttugend, der es zugehört zu befehlen, nämlich der Klugheit hinzugefügt als der hauptsächlichen die Eubulia, welche guten Rat vermittelt; die Synesis und die Gnome, welche das Urteilen regeln; vgl. unten ad III.
c) I. Das Beraten ist nicht die unmittelbare Thätigkeit der Klugheit; sondern sie vollzieht diesen Akt vermittelst der ihr unterworfenen Tugend, der Eubulia. II. Das betreffs des zu Wirkenden gegebene Urteil wird noch weiter zu Anderem hin bezogen; denn es trifft sich, daß man wohl recht urteilt über das, was geschehen soll, daß man es aber nicht gut ausführt. Also besteht die letzte Vollendung darin, daß die Vernunft gut befiehlt was geschehen soll. III. Das Urteil vollzieht sich betreffs einer jeden Sache vermittelst der ihr eigens entsprechenden Principien. Das Untersuchen aber ist nicht auf die eigens entsprechenden Principien gegründet; denn hätte man diese, so brauchte man nicht mehr zu untersuchen, sondern das Gesuchte wäre gefunden. Eine einzige Tugend also richtet sich auf das gute Beraten, und zwei richten sich auf das gute Urteilen; denn die Unterscheidung beginnt nicht bei den gemeinsamen Principien, sondern bei dem der betreffenden Seinsart eigens entsprechenden. Deshalb ist auch im Bereiche des rein Beschaulichen oder Spekulativen eine einzige Wissenschaft, die Dialektik, welche über Alles untersucht; der Wissenschaften aber, welche beweisen und dem gemäß urteilen, sind verschiedene je nach den verschiedenen Seinsarten. Die Synesis nun und die Gnome unterscheiden sich gemäß den verschiedenen Regeln, kraft deren geurteilt wird. Denn die Synesis urteilt über das zu Thuende nach dem gemeinsamen Gesetze; und die Gnome gemäß der natürlichen Vernunft in dem, worin das gemeinsame Gesetz schweigt; wie dies II, II Kap. 51, Art. 4 weiter dargelegt werden wird. IV. Die Erinnerung etc. sind keine von der Klugheit verschiedenen Tugenden; es sind dies gleichsam Teile, welche die Klugheit zusammensetzen, insofern das Alles zur Vollendung der Klugheit gehört. Die „Verwaltungskunst“, die „Kunst zu herrschen“ etc. sind gleichsam Unterabteilungen der Klugheit; während die hier erwähnten drei gleichsam die Vermögen sind, deren die Klugheit als Ganzes bedarf. Darüber noch mehr II, II Kap. 51.
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