Vierter Artikel. Die Klugheit ist eine von der Kunst unterschiedene Tugend.
a) Dies scheint mcht. Denn: I. Die Kunst ist die rechte Richtschnur für etwas ins Werk zu Setzende. Der Unterschied aber in dem, was ins Werk zu setzen ist, macht nicht, daß etwas den Charakter der Kunst verliert; denn zu den verschiedensten Arten von Werken gehören die verschiedenen Künste. Da also die Klugheit die rechte Richtschnur für eine gewisse Wirksamkeit ist, so muß sie als Kunst bezeichnet werden. II. Die Klugheit kommt weit mehr mit der Kunst überein wie die beschaulichen Zustände der Wissenschaften in der Vernunft; denn Klugheit sowohl wie Kunst richtet sich auf das, was sich auch anders verhalten kann. Manche beschauliche Zustände aber werden Künste genannt; also bei weitem mehr die Klugheit. III. Zur Klugheit gehört es, gut beraten zu sein. Dies ist aber auch eigen mehreren Künsten, wie der Feldherrnkunst, der Heilkunst u .s. w. Also ist Klugheit eine Kunst. Auf der anderen Seite unterscheidet Aristoteles die Kunst von der Klugheit. (6 Ethic. 5.)
b) Ich antworte; wo ein weiterer unterscheidend maßgebender Grund für eine Tugend besteht, da müssen verschiedene Tugenden angenommen werden. Nun hat ein gewisser Zustand den Charakter der Tugend nur deshalb, weil er eine gewisse Fertigkeit verleiht, kraft deren man gut wirken kann. Ein anderer Zustand aber hat den Charakter der Tugend auch aus dem Grunde, weil er den guten Gebrauch der bestehenden Fertigkeit verleiht. Die Kunst nun thut nur das Erstere, sie kümmert sich nicht um das Begehren. Die Klugheit aber thut auch das Zweite; sie bewirkt, daß man eine Fertigkeit gut gebraucht; denn sie setzt voraus die Geradheit des Begehrens. Der Grund dieses Unterschiedes ist der, daß die Kunst die rechte Richtschnur ist für das zu Wirkende, für das äußere Werk; die Klugheit aber ist die rechte Richtschnur für die Wirksamkeit, für das Wirken selber, soweit es vom Sujekte ausgeht. Beides ist dadurch voneinander verschieden, daß etwas Machen eine Thätigkeit bedeutet, die in einen äußeren Stoff übergeht, wie bauen, säen etc. Wirken aber ist eine Thätigkeit, die im Wirkenden bleibt; d. h. die da ihren Zweck und Abschluß hat, wie sehen, wollen etc. So also verhält sich die Klugheit zu dieser menschlichen Wirksamkeit, die da im Gebrauche der Vermögen und Zustände besteht wie die Kunst sich verhält zu den auf das Äußerliche gerichteten Werken; denn Beides ist die rechte Richtschnur für das, was geschehen soll. Nun hängt im Bereiche des rein Wissenschaftlichen, Beschaulichen die Vollendung und Geradheit der Thätigkeit ab von den Principien, von denen der Schließende ausgeht; hängt ja doch, wie oben gesagt, die Wissenschaft ab vom Verständnisse der Grundprincipien. Im Bereiche des menschlichen Thätigseins aber sind an der Stelle der Principien, von denen aus geschlossen wird, die verschiedenen Zwecke. Also entspricht es der Klugheit als der rechten Richtschnur des menschlichen Wirkens, daß der Mensch in gutem Verhältnisse stehe zu den Zwecken, was nicht anders geschehen kann als durch die Geradheit im Willen. Zur Klugheit also ist erforderlich die moralische Tugend, wodurch das Begehren ein rechtes, gerades wird. Das Gute aber in den Kunstwerken sieht ab vom guten oder schlechten Willen und berücksichtigt nur, daß das Kunstwerk an sich gut ist d. h. der erfaßten Form entspricht; so daß die Kunst einen guten geraden Willen nicht zur Voraussetzung hat. Deshalb wird mehr ein Künstler gelobt, der einen Fehler macht, weil er so will; als jener, der den Fehler nicht gewollt hat. Gegen die Klugheit aber ist in höherem Grade ein gewollter Fehler wie ein nicht gewollter; denn die Geradheit des Willens gehört zum Wesen der Klugheit, nicht aber zum Wesen der Kunst. Klugheit ist also verschieden von Kunst.
c) I. Alle die verschiedenen Arten von Kunstwerken sind außerhalb des Menschen. Die Klugheit aber ist die Richtschnur der menschlichen Wirksamkeit selber, soweit sie im Menschen ist. II. Soweit es auf den Sitz oder das Subjekt und den Gegenstand ankommt, steht die Klugheit näher der Kunst; denn beide sind im mutmaßenden, der Meinung zugänglichen Teile der Vernunft und beschäftigen sich mit dem, was auch anders sein kann. Soweit es aber auf den Charakter der Tugend ankommt, steht die Klugheit näher den rein beschaulichen Zuständen. III. Die Klugheit muß gut beraten sein, soweit dies der letzte Endzweck des ganzen menschlichen Lebens erfordert; wogegen das Beraten, was von den Künsten erfordert wird, durch den der betreffenden Kunst eigenen Zweck, also durch Äußerliches geleitet wird. Manche sind deshalb erfahrene Berater im Kriegswesen u. a., sind kluge Heerführer; sie sind aber nicht einfach und schlechthin klug. Dies sind nur jene, welche gut beraten sind in dem, was dem letzten Zwecke des ganzen menschlichen Lebens zukömmlich ist.
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