Fünfter Artikel. Die Tugend der Klugheit ist dem Menschen notwendig.
a) Dies scheint nicht so ubeschränkt richtig zu sein. Denn: I. Die Klugheit verhält sich so zum Wirken, soweit nämlich der Zweck des menschlichen Lebens in Betracht kommt, wie die Kunst zu den äußeren Werken, deren rechte Richtschnur sie ist. Die Kunst aber ist nur notwendig, bis daß die betreffenden Werke vollendet sind; nicht mehr nachher. Also ist auch die Klugheit nur notwendig, bis daß man tugendhaft geworden; nicht mehr nachher. II. Vermittelst der Klugheit treffen wir gute Auswahl. Dies kann aber geschehen, auch kraft fremden Rates. Also braucht man nicht selbst die Tugend der Klugheit zu haben. III. Die Tugend, die in der Vernunft ihren Sitz hat, richtet sich immer auf das Wahre; nie auf das Falsche. Das scheint aber nicht der Klugheit gemäß zu sein; da Irren menschlich ist und die Klugheit das zum Gegenstande hat, was auch anders sich verhalten kann. So steht ja auch geschrieben: „Die Gedanken der Menschen sind voll Furcht; und ungewiß ist ihre Voraussicht.“ (Sap. 9.) Also scheint die Klugheit keine die Vernunft vollendende Tugend zu sein. Auf der anderen Seite wird Sap. 8. unter den zum menschlichen Leben notwendigen Tugenden aufgezählt auch die Klugheit: „Nüchternheit lehrt sie,“ die göttliche Weisheit, „und Klugheit, Gerechtigkeit und Stärke.“
b) Ich antworte; die Klugheit sei eine zum menschlichen Leben notwendige Tugend. Denn, um gut zu leben, muß man gut wirken. Und um gut zu wirken, ist es nicht allein erforderlich, daß man etwas thut, sondern es kommt darauf an, wie man es thut; daß man nämlich gemäß vernünftiger Auswahl handelt und nicht aus Ungestüm der Leidenschaft. Da nun die Auswahl das Zweckdienliche berücksichtigt, so gehört, um gut auszuwählen, dazu vor Allem der gebührende Zweck; und dann das, was zum Zwecke hinbezogen wird. Damit der Mensch nun den gebührenden Zweck sich vorsetze, wird der begehrende Teil durch Tugenden vollendet, dessen Gegenstand eben das Gute und der Zweck ist. Damit aber das, was zum Zwecke thatsächlich dient, gefunden und zu ihm hinbezogen werde, muß die Vernunft in der richtigen Verfassung sein kraft einer Tugend; denn Beraten und Wählen sind Akte der Vernunft. Also muß in der Vernunft eine diese vollendende Tugend sich finden, vermittelst deren sie in der richtigen Verfassung ist zu dem hin, was der Erreichung des Zweckes dient; und diese Tugend ist die Klugheit. Also ist die Klugheit nötig, um gut zu leben.
c) I. Das Gute in der Kunst wird beurteilt gemäß der Vollendung des äußeren Werkes, nicht gemäß dem Wohle des Künstlers selber. Denn was in den außenliegenden Stoff übergeht, vollendet diesen Stoff; nicht aber den, von dem es ausgeht. Das Gute in der Klugheit jedoch wird bemessen nach dem Wirkenden selber, in dem ja das Wirken bleibt. Die Kunst also ist nicht notwendig dem Künstler, um selber gut zu leben und vollendet zu sein als Mensch, sondern nur, damit das Kunstwerk gut sei. Die Klugheit aber ist dem Menschen selber notwendig, daß er gut lebe und seine eigene Vollendung erreiche. II. Handelt der Mensch nach dem Rate eines anderen, so ist noch nicht vollendet seine eigene Wirksamkeit; weder soweit es auf die leitende Vernunft ankommt noch was den in Thätigkeit setzenden begehrenden Teil anbelangt. Ist also seine Wirksamkeit eine gute, so thut er wohl Gutes, aber nicht schlechthin gut thut er es. Gut aber das Gute thun heißt gut leben. III. Das Wahre in der thätig wirksamen (praktischen) Vernunft wird anders genommen wie das Wahre in der rein beschaulichen (spekulativen) Vernunft; wie es 6 Ethic. 2. heißt. Denn das Wahre in letzterer Weise besteht in der Gleichförmigkeit der Vernunft mit den Sachen. Und weil die Vernunft in den zufälligen Dingen nicht unfehlbar gleichförmig werden kann den äußeren Dingen, sondern einzig im Bereiche des Notwendigen, so beschäftigt sich in der spekulativen Vernunft kein Zustand mit den zufälligen Dingen, die auch anders sein können, sondern nur mit dem Notwendigen. Das Wahre der thätig wirksamen Vernunft aber wird bemessen gemäß der Gleichförmigkeit mit der Geradheit des Willens oder Begehrens. Und diese Gleichförmigkeit hat nun nicht statt im Bereiche des Notwendigen, was ja vom menschlichen Willen nicht abhängt; sondern nur im Zufälligen, Kontingenten, was von uns aus gewirkt werden kann. Und deshalb werden da in der praktischen Vernunft nur Zustände angenommen, die auf das Zufällige gehen, was nämlich auch anders sein kann: mit Rücksicht auf die eigene Wirksamkeit die Klugheit, mit Rücksicht auf die äußeren Werke die Kunst.
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