Dritter Artikel. Die Kunst als Tugend in der Vernunft.
a) Die Kunst scheint keine Tugend in der Vernunft zu sein. Denn: I. „Die Tugend gebraucht man nicht schlecht“ (Aug. s. ob.); mit der Kunst aber ist dies der Fall. II. „Zur Kunst gehört eine gewisse Tugend“ sagt Aristoteles. (6 Ethic.5.) Also ist die Kunst keine Tugend. III. Die freien Künste stehen höher wie die mechanischen. Wie diese aber praktisch sind und für das tägliche Leben berechnet, so sind jene mehr beschaulich; also müßte die Kunst, wäre sie eine Tugend in der Vernunft, vielmehr zu den beschaulichen, spekulativen Tugenden gehören. Auf der anderen Seite steht Aristoteles (6 Ethic. 5.), der die Kunst als Tugend betrachtet; nicht aber als eine beschauliche, die in der wissenschaftlichen Vernunft ihren Sitz hätte.
b) Ich antworte, die Kunst sei nichts Anderes wie die rechte Richtschnur für etwas, das ins Werk zu setzen ist. Hier handelt es sich also nicht um ein Gut, worauf das menschliche Begehren als solches sich richtet, sondern darum, daß das Werk selbst, welches in Rede steht, in sich gut ist. Denn der Künstler wird nicht gelobt wegen des guten Willens, den er etwa hatte, sondern demgemäß wie sein Werk ist. So ist also die Kunst recht eigentlich ein wirksam thätiger Zustand. Darin freilich kommt die Kunst überein mit den rein beschaulichen Zuständen, daß auch diese nur darauf sehen, wie die Sache, die sie betrachten, sich verhält; nicht aber wie der Wille ist. Denn wenn nur der Mathematiker Wahres beweist, kommt es nicht darauf an, ob er froh oder zornig ist; wie dies auch beim Künstler der Fall ist. Und so hat die Kunst den Charakter der Tugend wie die beschaulichen Tugenden; denn keine von beiden machen den guten Gebrauch des Gewirkten oder der Fertigkeit, wie das die eigentliche vollendete Tugend zuwege bringt; sie geben nur die Fertigkeit, gut zu wirken.
c) I. Wenn jemand trotz der Kunst, die er hat, etwas Kunstloses macht, so ist das kein Werk der Kunst, sondern gegen die Kunst; ebenso wie wenn jemand, der das Wahre weiß, lügt, dies gegen das Wissen ist. Die Kunst also wie das Wissen geht immer auf das Gute; und deshalb ist da von Tugend die Rede. Aber weder Wissen noch Kunst giebt den rechten Gebrauch; obgleich wiederum ohne Kunst kein rechtes Gebrauchen ist. II. Damit der Mensch die Kunst, welche er hat, gut gebrauche, wird guter Wille erfordert; und um diesen zu vollenden bedarf es einer moralischen Tugend. Offenbar nämlich neigt der Künstler durch die Gerechtigkeit, welche seinen Willen gerade macht, dahin, daß er ein den übernommenen Bedingungen getreues Werk herstellt. Und danach spricht Aristoteles. III. Auch im Bereiche des Beschaulichen ist etwas nach der Weise eines Werkes; wie z. B. der Aufbau des Syllogismus, die gebührende Redeweise oder das Zählen und Messen. Und deshalb werden jene beschaulichen Zustände in der Vernunft, die auf solche Werke der Vernunft sich richten, gemäß einer gewissen Ähnlichkeit Künste genannt, allerdings „freie“ zum Unterschiede von denen, die vermittelst des Körpers ausgeführt werden und die danach gewissermaßen „knechtische“ genannt werden; denn der Körper dient der Seele wie ein Knecht, der Seele nach ist der Mensch frei. Jene Wissenschaften aber, welche auf kein solches Werk sich richten, werden einfach und schlechthin Wissenschaften genannt und nicht Künste. Daß aber die freien Künste an sich höher stehen, das ist kein Grund, daß ihnen in höherem Grade der Charakter der Kunst zukommt.
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