Erster Artikel. Eine Tugend kann in höherem oder geringerem Grade vorhanden sein.
a) Dagegen spricht Folgendes: I. Apok. 21. sind die Mauern Jerusalems gleich, wodurch nach der Glosse die Tugenden bezeichnet werden. Also alle Tugenden sind einander gleich. II. Die Tugend besteht ihrem Wesen nach „im höchsten Grade“; sie ist „das Äußerste, was das Vermögen kann,“ ultimum potontiae. (1. de coelo.) Und Augustin (2. de arb. 19.) sagt: „Die Tugenden sind im höchsten Grade große Güter, die niemand schlecht gebraucht.“ Also ist da kein „mehr“ und kein „minder“. III. Der Grad in der Wirkung hängt von der Ursache ab. Die vollkommenen Tugenden aber, also die eingegossenen, sind von Gott, dessen Kraft immer gleichmäßig unendlich ist. Auf der anderen Seite kann da, wo ein Überfließen statthat, eine Ungleichheit sich finden. Der Herr aber sagt (Matth. 5, 20.): „Wenn nicht überfließt euere Gerechtigkeit mehr als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, so könnt ihr nicht in den Himmel eintreten.“ Und Prov. 15. heißt es: „In der überfließenden Gerechtigkeit ist die größte Tugend.“ Also ist in der Tugend ein „mehr“ und „minder“.
b) Ich antworte; die Frage, ob eine Tugend größer sei wie die andere, kann in doppelter Weise gefaßt werden: 1. insofern die Tugenden der Gattung nach verschieden sind; und so ist offenbar die eine größer als die andere. Denn immer steht die Ursache höher wie die Wirkung; und welche Wirkung der Ursache näher steht, die ist hauptsächlicher. Nun ist die Vernunft für alles menschliche Gute Wurzel und Ursache. Also die Klugheit, vermittelst deren die Vernunft selber vollendet wird, steht höher als jene Tugenden, welche den begehrenden Teil vollenden; und in diesen letzten, den eigentlich moralischen Tugenden, ist jede um so besser je näher sie der Vernunft steht. Danach also steht die Gerechtigkeit, welche den Willen vollendet, voran den anderen moralischen Tugenden; und die Stärke wird der Mäßigkeit vorgezogen, weil die Begehrkraft minder Anteil hat an der Vernunft, wie die Abwehrkraft. 2. Es wird die Tugend ein und derselben Gattung verstanden; und demgemäß gefragt, ob sie bald mehr bald minder sein kann. Hier kann nun wieder eine doppelte Auffassung platzgreifen, insofern die Tugend an und für sich genommen wird, secundum se; oder insofern das zu Grunde liegende Subjekt an der Tugend teilnimmt. (Vgl. Kap. 52, Art. 1.) An und für sich genommen, läßt die Tugend ein „mehr“ und „minder“ zu, je nachdem sie sich nach einem mehr oder minder umfangreichen Gegenstande hin erstreckt. Wer nun eine Tugend, wie z. B. die Mäßigkeit, wirklich besitzt, der hat sie mit Rücksicht auf Alles, was die Mäßigkeit umfaßt oder er hat sie gar nicht. Dies ist bei anderen Zuständen wie z. B. bei der Wissenschaft und Kunst nicht der Fall; denn wer die Grammatik kennt, der weiß damit zugleich nicht Alles, was zur Grammatik gehört. Und danach sagen mit Recht die Stoiker wie Simplicius (comm. in praed. qual.), daß die Tugend kein „mehr“ und „minder“ zuläßt, wie das bei Wissenschaft und Kunst der Fall ist. Wird jedoch die Tugend betrachtet von seiten des daran teilnehmenden Subjektes, seitens der Person also, die sie hat, so kann die Tugend eine größere oder geringere sein, sei es soweit verschiedene Zeiten in Betracht kommen sei es daß verschiedene Personen berücksichtigt werden. Denn der eine ist mehr veranlagt entweder von Natur oder durch Gewohnheit wie der andere; und ebenso ist der Scharfsinn der Vernunft oder auch das Geschenk der Gnade und damit das erforderte vernünftige Urteil bald mehr bald minder lebendig. Und darin gingen irre die Stoiker, die da meinten, nur der im höchsten Grade zur Tugend Veranlagte sei in Wahrheit als tugendhaft zu bezeichnen. Nicht nämlich wird zur Natur der Tugend erfordert, daß man die stets unverrückbare, unteilbare Mitte genau erreiche; sondern es wird nur verlangt, daß man je nach den Verhältnissen des Subjektes beinahe sie erreiche; trifft ja auch von den Pfeilschützen der eine näher der andere entfernter ins Schwarze, nämlich in das feststehende Zeichen.
c) I. Jene Gleichheit ist von der verhältnismäßigen Gleichheit zu verstehen; weil alle Tugenden verhältnismäßig wachsen im Menschen. II. Jenes „Äußerste“ verträgt sich wohl mit einem „mehr“ und „minder“, wie das eben dargelegt worden; mag auch das „Äußerste“ an sich unteilbar sein. III. Gott wirkt nicht nach Naturnotwendigkeit, sondern nach der Ordnung seiner Weisheit; welcher gemäß Er dem einen größere dem anderen geringere Tugend verleiht nach Ephes. 4.: „Jedem ist gegeben die Gnade gemäß dem Maße der Schenkung von seiten Christi.“
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